Die Eröffnung des Internationalen Filmfestivals von Cannes wurde offiziell für den 14 Mai geplant. Man könnte jedoch behaupten, dass das Festival viel früher begonnen hat und wie es üblich ist, mit lebhaften Diskussionen.
Im Laufe der Jahre wurde das Festival oft zur Plattform für politische und aktivistische Veranstaltungen gemacht. Erinnern wir uns immer noch an die Solidaritätsaktion von 2018, organisiert von Cate Blanchett, Kristen Stewart und Salma Hayek, die einen Frauenmarsch auf dem roten Teppich anführten, um gegen die Geschlechterungleichheit in der Filmindustrie zu protestieren. Vier Jahre später stand der militärische Konflikt zwischen Russland und der Ukraine im Mittelpunkt der Kontroversen, und in diesem Jahr entfachen hitzige Diskussionen über die Situation im Gaza. Eine neue Welle von Streiks droht die internationale Filmindustrie. Die MeToo-Anhänger werden wieder aktiv, Mitglieder des französischen Kollektivs Sous les ecrans la deche, dass die Freiberufler hinter den Kulissen des Films vereint, bereiten Proteste gegen die Arbeitsreform vor. Aus diesem Grund berief der künstlerische Leiter des Festivals Thierry Frémaux ein Treffen mit Journalisten einen Tag vor der offiziellen Eröffnung ein und erklärte seine Absicht, „das Festival diesmal ohne zu viele Kontroversen zu veranstalten“ und sich auf das Hauptziel des Filmfestivals zu konzentrieren – das Kino selbst. Dies stillte jedoch nicht den Hunger nach politischen Botschaften, und viele Prominente verlagerten die Diskussionen in die sozialen Netzwerke.
Dieses Jahr ergriff das Festival noch mehr Sicherheitsmaßnahmen: Erstens wurden für die nächsten 11 Tage Demonstrationen und Proteste in Cannes verboten. Zweitens erhöhten die Organisatoren des Filmfestivals das Sicherheitsteam. Rund um den Festivalpalast wurden Kameras mit künstlicher Intelligenz zur zusätzlichen Überwachung installiert, und neue Gates mit KI ermöglichten den Festivalbesuchern, die Kontrolle zu passieren, ohne ihre Taschen leeren zu müssen.
Als sich die Gäste am 14. Mai Abend bequem im Kinosaal Grand Lumiere niederließen und den Marsch über den roten Teppich verfolgten, auf dem übrigens hauptsächlich Teilnehmer im Alter von 70 plus zu sehen waren, wurde erwartet, dass der Abend planmäßig verlaufen würde.
„Vielleicht wissen Sie das nicht, aber Sie werden gleich in ein Paralleluniversum eintreten, das als Cannes-Wirbel bekannt ist“, verkündete die Moderatorin der Eröffnungszeremonie, Camille Cottin. Zur Musik des Orchesters erklärte die französische Schauspielerin, dass die zwölf Tage des Festivals von großen Emotionen und der Liebe zum Kino geprägt sein würden:
„Wir schauen den ganzen Tag Filme und diskutieren sie die ganze Nacht. Niemand spricht dieselbe Sprache, aber wir alle verstehen uns. In Cannes, wenn man in die Dunkelheit eintaucht, findet man das Licht. Diese Welt existiert. Hier treffen sich Kinoliebhaber aus aller Welt. Heute, in Zeiten beunruhigender und sogar beängstigender Ereignisse in der Welt, wenn tiefe Meinungsverschiedenheiten die Völker trennen, wenn unser Planet brennt, wenn unser kollektives Bewusstsein künstlich wird, ist dieser Treffpunkt ein Glücksfall. Jedes Jahr kommen wir nach Cannes, um unsere Menschlichkeit zu zeigen und unsere Herzen mit Hoffnung zu füllen. Und das ist wunderbar.“
Anschließend lud die Moderatorin des Abends die internationale Jury unter der Leitung der amerikanischen Schauspielerin und Regisseurin Greta Gerwig auf die Bühne ein. Die Jurypräsidentin dankte dem Filmfestival für die Möglichkeit, die nächsten zwei Wochen im „heiligen Tempel des Kinos“ zu verbringen. Ihrer Meinung nach ist „die Kunst des Films heilig“. „Ich kann nicht glauben, dass ich die nächsten 10 Tage in diesem Haus der Verehrung verbringen darf“, fügte Gerwig hinzu. Speziell für sie sang die Sängerin Zaho de Sagazan das Lied „Modern Love“ von David Bowie, das nicht nur ein Welthit ist, sondern auch der Soundtrack zum Film „Frances Ha“ von Noah Baumbach, in dem die Hauptfigur, gespielt von Gerwig, energiegeladen zu dieser Musik tanzt.
Die Französin Juliette Binoche betrat die Bühne, um die „Goldene Ehrenpalme“ an die amerikanische Schauspielerin Meryl Streep zu überreichen. Traditionell wurde dem Publikum ein Clip aus Filmen mit Streep gezeigt. Dieser Moment rief emotionale Reaktionen und Tränen sowohl beim Publikum als auch bei der amerikanischen Schauspielerin hervor. Streep äußerte ihre Gefühle während einer emotionalen Rede: „Für mich ist es, diesen Videomontage anzusehen, wie aus dem Fenster eines Hochgeschwindigkeitszugs zu schauen, der mich von meiner Jugend bis in die fünfzig Jahre und darüber hinausbringt. So viele Gesichter, Orte, Ereignisse, die ich immer noch so deutlich in Erinnerung habe. Als ich vor 35 Jahren zum ersten Mal nach Cannes kam, war ich bereits Mutter von drei Kindern. Ich war 40 und dachte, dass meine Karriere vorbei sei. Damals war das für Schauspielerinnen ein durchaus logisches Fazit. Der einzige Grund, warum ich heute Abend hier bin, ist dank der wunderbaren Menschen in der Filmindustrie, die Frauen geholfen haben, ihre Stimme zu finden.“ Dann fügte Streep hinzu: „Meine Mutter, die normalerweise immer recht hat, sagte mir immer: ‚Meryl, mein Schatz, du wirst sehen. Alles geht so schnell vorbei, viel zu schnell.‘ So ist es auch passiert. Mit Ausnahme meiner Rede, die scheint viel zu lang zu sein.“ Danach vereinten sich Binoche und Streep, um das 77. Filmfestival von Cannes offiziell zu eröffnen.
Der erste Film des Festivals – „Second Act“ von Quentin Dupieux – wurde noch am selben Abend gezeigt. Es ist ein Film über das Kino im Kino und darüber, wie filmische Realität geschaffen wird. Der Film beginnt mit einem Dialog zwischen zwei Freunden, David (Louis Garrel) und Willy (Raphaël Quenard). David spielt die Rolle eines politisch korrekten Charakters und verbietet Willy, respektlos über sexuelle Minderheiten zu sprechen und seine konservativen Ansichten zu äußern. Doch seine Korrektheit ist erfunden. Bei der ersten Gelegenheit ist er bereit, Kollegen zu verraten und ihnen Rollen wegzunehmen. Überraschend ist, dass auch Davids Gegner, der eindeutig negative Ansichten über sexuelle Minderheiten vertritt, nach einiger Zeit Guillaume (Vincent Lindon) auf den Mund küsst, der im Drehbuch die Rolle des Vaters von Florence (Léa Seydoux) spielt. Florence wird sexuell belästigt, wobei die Errungenschaften von MeToo völlig ignoriert werden.
Am Ende stellt sich heraus, dass das Drehbuch des Films von einer künstlichen Intelligenz geschrieben wurde, die sogar die Rolle des Regisseurs übernahm. So werden die Diskussionen und Debatten der Gegenwart von der Realität auf die große Leinwand übertragen, was die Zuschauer zwangsläufig dazu bringt, zu den Problemen der Gegenwart zurückzukehren.