In diesem Jahr tauchen viele Filme tief in die Hintergründe der Filmindustrie ein und erkunden die Ikonen des Showbusiness, die schockierende Brutalität und das weite kinematografische Universum.
In seinem Film “May December” erzählt Todd Haynes die Geschichte einer bekannten Fernsehschauspielerin (Natalie Portman), die nach Georgia reist, um Recherchen für ihre zukünftige Rolle anzustellen. Sie verkörpert Grace (Julianne Moore), die trotz ihrer Ehe eine Affäre mit einem 13-jährigen Jungen beginnt, von ihm zwei Kinder bekommt und ihn schließlich ihn heiratet. Die Figur von Portman vertieft sich so sehr in ihre Rolle, dass sie sogar mit dem mittlerweile über 30-jährigen Jungen schläft.
Der Regisseur gibt zu, dass er den Film allein aufgrund einer bestimmten Szene gedreht hat, in der Portman direkt in die Kamera einen Monolog hält – ein Liebesgeständnis im Namen von Grace an den Jungen. Diese eindrucksvolle Rede wurde in einer einzigen, langen Einstellung aufgenommen. “Genau diese Szene war der Grund, warum ich den Film drehen wollte”, erklärt Haynes. “Ich hatte Ingmar Bergmans ‘Schande’ im Kopf, in dem Ingrid Bergman einen Brief direkt in die Kamera liest. Ich glaube, dass diese Szene Portman ihren vierten Oscar bringen könnte.” Diese Meinung teilten jedoch nur wenige Filmkritiker, da die meisten den Star-Cast als einzige herausragende Leistung des Films betrachteten, während Handlung und Präsentation eher durchschnittlich wirkten.
“Il Sol dell’Avvenire” vom Italiener Nanni Moretti greift ebenfalls das Thema des Regisseuralltags auf, möglicherweise basierend auf eigenen Erfahrungen. Die Handlung findet im Jahr 1956 statt und erzählt von der Ankunft eines ungarischen Zirkus’ namens Budavari in Rom, um der sowjetischen Invasion in Budapest zu entkommen. Die Beziehungen zwischen Russland und Ungarn sorgen für Meinungsverschiedenheiten in der italienischen kommunistischen Partei: Einige Mitglieder möchten ihre Heimat verlassen, während andere zu verängstigt sind, um Kritik an Stalins Erbe zu äußern. Moretti verkörpert einen tyrannischen Regisseur, der ständig mit Zweifeln und Wut konfrontiert wird. Er lehnt es jedoch ab, die Rolle von Stalin zu spielen und zieht stattdessen vor, Filme über die Macht des Volkes zu drehen.
Der Regisseur in “Cobweb”, der von dem Koreaner Kim Ji-woon inszeniert wird, versucht, trotz der Beschwerden der Schauspieler, eines Drehverbots und einer strengen Zensur, ein Meisterwerk zu schaffen. In der Hauptrolle spielt der bekannteSchauspieler Song Kang-ho, der das Publikum in Cannes bereits mit seiner Leistung in “Parasite” von Bong Joon-ho begeistert hat. Im vergangenen Jahr wurde er für seine Hauptrolle in Hirokazu Koreedas Film “The Broker” mit der “Goldenen Palme” ausgezeichnet.
Diese beiden Filme haben die Zuschauer und Kritiker in Cannes gespalten. In Jessica Hausner’s “Club Zero” lässt ein jugendliches Mädchen sich selbst erbrechen und verschlingt es dann, während in “Black Flies” von Jean-Stéphane Sauvaire verrottende Körper im Großaufnahmen gezeigt werden, über die schwarze Fliegen schwirren. In ersterem Film handelt es sich um eine Elite-Schule, in der einer Gruppe von Teenagern “bewusste Ernährung” gelehrt wird. Ihre Lehrerin befürwortet letztendlich den vollständigen Verzicht auf Nahrung, um die eigene Gesundheit zu verbessern und gleichzeitig die Umwelt zu retten. In “Black Flies” dreht sich alles um den Alltag von Sanitätern im Rettungsdienst, die dringende medizinische Hilfe für die “Ausgestoßenen dieser Welt” leisten: Einwanderer, Arme und Obdachlose im immerwachen New York.
Die Sanitäter werden von Sean Penn und Tye Sheridan dargestellt. Der erste mit immer halb geschlossenen Augen und einem Zahnstocher im Mund, der andere so emotional instabil, dass bereits zu Beginn des Films klar ist, wie sein Ende aussehen wird. Die schnelle, beunruhigende Kameraführung, blendende Lichtblitze und der ständig dröhnende Soundtrack erzeugen eine erstickende Atmosphäre der Hoffnungslosigkeit, doch sie berührt emotional nicht. Martin Scorsese hat dies in seinem Film „Bringing Out of Dead“ mit einer ähnlichen Handlung viel effektiver umgesetzt, in dem Nicholas Cage einen Sanitäter spielte.
Eine beeindruckende Ansammlung von Stars erschien auf dem roten Teppich für die Premiere von “Asteroid City” von Wes Anderson. Zu den Anwesenden gehörten Scarlett Johansson, Tilda Swinton, Willem Dafoe, Jason Schwartzman, Edward Norton und Adrien Brody. Lediglich Bill Murray fehlte, da er vor Drehbeginn an COVID-19 erkrankt war und durch Tom Hanks ersetzt wurde. Der Film erzählt die Geschichte einer Gruppe von Schülern und ihren Eltern, die zu einer jährlichen Versammlung junger Astrologen in eine fiktive Wüstenstadt namens “Asteroid City” reisen. Das friedliche Leben der Bewohner wird jedoch gestört, als Außerirdische ihren Stolz, einen Asteroiden, entführen. Wes Anderson ist bekannt für seinen unverwechselbaren Stil, der sich in der detailverliebten Komposition und den kunstvollen Kulissen, den pastellfarbenen Farbschemata, den geschickten Kamerabewegungen und den satirischen Dialogen widerspiegelt. Seine Filme erzeugen oft ein Lächeln, selten jedoch lautes, aus tiefstem Herzen kommendes Gelächter. “Asteroid City” hat die Zuschauer in Cannes gespalten – einige feiern Andersons Werk enthusiastisch, während andere die sorgfältig inszenierte Designer-Leere der Bilder kritisieren.
Anders sieht es bei dem Film des Finnen Aki Kaurismäki aus. Leider kann der Regisseurwährend der Dreharbeiten und vor öffentlichen Auftritten nicht auf starke alkoholische Getränke verzichten. Deshalb gibt er schon lange keine Interviews mehr oder nur für ausgewählte Journalisten, die seine Sprache entschlüsseln können. Bei seiner Premiere in Cannes tanzte er einen Solotanz auf dem roten Teppich. Nach dem Film versuchte er, Thierry Frémaux (den künstlerischen Leiter des Filmfestivals), der sich ständig aus seinen Armen befreien wollte, in seinen Umarmungen festzuhalten. Schließlich brach er in Tränen aus.
Sein Film “Fallen Leaves” hingegen wird als kleines Meisterwerk betrachtet. Darin geht es um eine schweigsame Angestellte im Supermarkt namens Anssi und Holappa, einem Arbeiter, der versucht, seine Depression mit Alkohol zu betäuben. Diese beiden treffen aufeinander, und zwischen diesen einsamen Seelen entsteht eine berührende Verbindung. Ein interessantes Detail: Die Charaktere schalten regelmäßig das Radio ein, das Nachrichten über den Krieg in der Ukraine überträgt.
Der visuelle Stil dieses Films, wie auch aller Filme von Kaurismäki, zeichnet sich durch eine einzigartige Ästhetik aus, bei der jede Einzelheit ihre eigene künstlerische Bedeutung hat. Statische Einstellungen, minimale Bewegung, symmetrische Komposition und eine Farbpalette von erdigen Tönen mit überraschenden Einschüben von Blau oder Rot erzeugen eine besondere Atmosphäre und Melancholie. Kritiker waren sich einig, dass “Fallen Leaves” ein Film ist, der mit großer Hingabe gemacht wurde und trotz seines Absurden die Herzen der Zuschauer mit Emotionen füllt. Viele prophezeien diesem Film eine Goldene Palme.
Die kontroverseste Premiere des Filmfestivals war die Vorführung von “The Idol”. Es ist unklar, ob die Aufregung durch die Teilnahme von Lily-Rose Depp, der Tochter von Johnny Depp und Vanessa Paradis, an dieser Fernsehserie ausgelöst wurde oder ob es daran lag, dass die Episoden wie ein pornografisches Video wirkten, das die Akteure der Weltmusikindustrie als verlorene Neurotiker und ihre Idole als Propagandisten von Pornografie darstellt. Trotz des feierlichen Auftritts auf dem roten Teppich unter dem Jubel der Menge, der emotionalen Momente während der Vorführung und den Tränen der Teilnehmer nach der Premiere, sah sich das Filmteam am nächsten Tag einer völlig anderen Situation gegenüber. Sie mussten sich vor den Angriffen der Journalisten verteidigen. Lily-Rose Depp und ihr Co-Star Sam Levinson erklärten, dass der Serie nicht die Absicht zugrunde lag, widersprüchliche Botschaften zu vermitteln, sondern dass sie lediglich die dunkle Seite der Musikindustrie und die Popularität von Idolen untersucht. Es scheint, dass diese Aussagen, ebenso wie die zahlreichen Szenen körperlicher und sexueller Gewalt, nicht alle überzeugt haben.