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Der rote Teppich an der Côte d’Azur funkelt wie eh und je – doch die Spielregeln haben sich gründlich verändert. Im Jahr 2025 genügt es nicht mehr, als Schauspieler einfach nur präsent zu sein, selbst wenn man ein großer Star ist. Immer öfter kommen die Stars heute nicht mehr nur für Fototermine, sondern um ihre eigenen Regiearbeiten vorzustellen. Der Übergang vom Schauspiel vor die Kamera zur Arbeit dahinter ist zwar nicht neu, aber in Cannes fühlt er sich plötzlich wie eine unbedingte Notwendigkeit an.

Ein Beispiel dafür ist Dakota Johnson, die mit der Komödie Splitsville einen Film unter der Regie von Michael Angelo Covino produziert hat. Darin geht es um zwei Paare, die eine offene Beziehung ausprobieren – mit turbulenten Folgen. „Wir müssen Komödien zurück ins Kino bringen, gerade auf Festivals wie Cannes. Lachen sollte man im Saal hören, nicht allein vor dem Fernseher zu Hause“, sagt Covino.

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Dakota Johnson in Cannes, Photo: Cannes Film Festival

Dieses Jahr präsentieren drei englischsprachige Schauspieler ihre Regiedebüts: Kristen Stewart, Scarlett Johansson und Harris Dickinson – jeder mit seiner ganz eigenen Geschichte und Handschrift. Für Stewart und Johansson ist Cannes kein Neuland: Stewart saß bereits 2018 in der Jury, Johansson steht als Schauspielerin in Wes Andersons The Phoenician Scheme im Wettbewerb. Dickinson, der mit Ruben Östlunds Triangle of Sadness (Goldene Palme 2022) debütierte, erhielt breite Anerkennung für seine Rolle in Bad Girl an der Seite von Nicole Kidman.

Stewarts Regiedebüt The Chronology of Water basiert auf der Autobiografie der Schriftstellerin Lidia Yuknavitch und widmet sich schweren Themen wie Trauma, Körperlichkeit und Selbstzerstörung. Yuknavitch erzählt nicht chronologisch, sondern fragmentarisch – wie Wasser fließend und flexibel – ihre Erinnerungen, in denen Leid, Reinigung und Befreiung ineinander verschmelzen. Gewalt in der Familie, der Tod der neugeborenen Tochter, eigene Drogenabhängigkeit und das Schwimmen als Überlebensstrategie: All das spiegelt sich im Film wider. Stewart arbeitet seit 2018 an dem Projekt und erklärte Anfang 2024 öffentlich, sie werde den Film jetzt machen, „bevor ich wieder anfange, andere Filme zu drehen – sonst verlasse ich das Kino“. Gedreht wurde im Sommer in Lettland.

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 © Les films du Losange Instagram

Nach dem Anschauen bleiben Fragen zurück, die nicht leicht zu beantworten sind: Warum wird Schmerz für viele zur Tür zum Selbstverständnis? Weshalb brauchen manche das Chaos, um sich selbst zu finden, während andere eher stille Reflexion und Selbstbeobachtung suchen? Doch anders als bei einer ruhigen, reflektierten Auseinandersetzung mit diesen Themen wirkt Stewarts Umsetzung eher impulsiv und auf den ersten Blick plakativ: laute Close-ups, Schreie, körperliches Chaos. Es fehlt an tieferer Reflexion oder subtiler Innerlichkeit – stattdessen setzt Stewart auf unmittelbare, physische Ausdrucksformen, die eher eine Rebellion gegen das Schweigen darstellen als eine durchdachte narrative oder emotionale Erkundung.

Die moderne Kultur romantisiert eben oft das Chaos als Zeichen von Genialität – während leiser Widerstand und Selbstbeobachtung wenig Beachtung finden. Stewart’s Film ist kein Bekenntnis, sondern eine provozierende Bildkonfrontation.

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Urchin, Photo: Cannes Film Festival

Harris Dickinsons Urchin, unterstützt von BBC Films, verfolgt einen anderen Ansatz: Ein obdachloser Drogensüchtiger namens Mike kämpft auf Londons Straßen ums Überleben. Charmant, verletzlich und unzuverlässig zugleich, bleibt er ein Rätsel. Dickinson schöpft aus eigenen Erfahrungen in Obdachlosenheimen und seiner politischen Ernüchterung: „Ich wollte vor Ort helfen und habe gesehen, wie verletzlich Menschen sind, die von der Gesellschaft ignoriert werden.“ Doch diese Verletzlichkeit ist nicht sentimental. Mikes Reaktion auf Hilfe ist aggressiv, auf Freundlichkeit mit Diebstahl – ein ehrliches Bild von Überlebensinstinkt. Urchin ist letztlich ein Film über Vertrauen – darüber, wie schwer es ist, an menschliche Anständigkeit zu glauben, gerade bei denen, die oft versagen.

Das größte kommerzielle Potenzial hat Scarlett Johanssons Eleanor die Große. Die Hauptfigur, die 94-jährige Eleanor Morgenstern (gespielt von June Squibb, Oscar-nominiert für Nebraska), zieht nach dem Tod ihrer langjährigen Freundin von Florida nach New York. Dort schließt sie sich auf Drängen ihrer Tochter einer Gesangsgruppe an, landet aber zufällig bei einer Gruppe von Holocaust-Überlebenden, die sie bitten, ihre Geschichte zu erzählen. Eleanor erzählt stattdessen die tragische Lebensgeschichte ihrer verstorbenen Freundin – eine Lüge, die ungeahnte Folgen entfaltet: Eine junge Journalistin will darüber berichten, Eleanor wird an Universitäten eingeladen und schließlich sogar ins Fernsehen geholt. „Ich bin nervös, aber auch aufgeregt“, sagt Johansson. „Wenn ich meine Arbeit gut mache, könnte June mit 95 Jahren auf der Croisette stehen.“ Bei der Premiere erntete Squibb minutenlangen stehenden Applaus – ebenso Dickinson, während Stewart sogar noch länger gefeiert wurde.

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Eleonor The Great, Photo: Cannes Film Festival

Die Regiedebüts von Stewart, Johansson und Dickinson haben eines gemeinsam: Sie stellen sich bewusst hinter die Kamera. Das ist selten für Schauspieler – und vielleicht ein Signal, dass die Zeit der reinen Selbstdarstellung einer Ära echten, persönlichen künstlerischen Ausdrucks weicht.

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