Mit politischen Statements, intimen Geschichten und neuen Ambitionen etablierter Protagonisten markierte Cannes 2025 einen Wandel im Wesen des Kinos — thematisch wie auch in der Haltung seiner Autoren. Das Programm erinnerte weniger an eine ausgelassene Feier, sondern vielmehr an eine nachdenkliche Pause. In dieser besann sich das Kino auf seine Wurzeln: die Erforschung menschlicher Erfahrungen in einer Zeit globaler Unsicherheit.
Politik als künstlerische Entscheidung
Die Goldene Palme ging an den iranischen Regisseur Jafar Panahi für seinen Film „It Was Just an Accident“. Der Film, durchzogen von absurdem Humor und politischer Wut, erzählt die Geschichte von fünf ehemaligen Häftlingen, die glauben, ihren ehemaligen Henker, einen Staatsanwalt, wiederzuerkennen. Doch keiner von ihnen kann sich sicher sein: Während ihrer Haft trugen sie alle Augenbinden. Der politisch aufgeladene Film, inspiriert von Panahis persönlichen Erfahrungen im Gefängnis, wurde zum Symbol des Festivals. Trotz der ausgewogenen Mischung aus Gesellschaftskritik, persönlichem Drama und Tragikomödie blieb der Film in seiner Dramaturgie vorhersehbar – das Ende ließ sich bereits im ersten Drittel erahnen. Die Entscheidung der Jury unter Vorsitz von Juliette Binoche wirkte daher eher wie eine politische Geste, ein Akt der Solidarität mit dem Iran. Binoche, die das iranische Kino unter anderem durch ihre Arbeit mit Abbas Kiarostami kennt, blieb dem Film sichtlich nicht gleichgültig.

Kino als Spiegel der Ära
In diesem Jahr drehte sich in Cannes weniger alles um große Premieren und Stars, sondern vielmehr um tiefgründige Erzählungen.
Joachim Triers „Sentimental Value“, ausgezeichnet mit Grand Prix der Jury, handelt nicht von globalen Konflikten, sondern erzählt die intime Geschichte einer Familie. Die älteste Tochter reagiert überempfindlich auf familiäre Spannungen und sogar versucht, sich das Leben zu nehmen. Nach dem Tod der Mutter versucht der Vater, ein Regisseur, die Beziehung zu seiner entfremdeten Tochter zu heilen, indem er ihr die Hauptrolle in seinem persönlichsten Film anbietet.

„Sentimental Value“ löste bei den Zuschauern gegensätzliche Reaktionen aus, von Begeisterung bis Fassungslosigkeit: „Wozu brauchen wir die Geschichte eines Mädchens mit einer leichten psychischen Störung, das Probleme schafft, wo keine sind?“ Vor dem Hintergrund globaler Krisen – finanziell, ökologisch, politisch – wirkte der Film gleichzeitig banal und zutiefst persönlich. Ähnlich wie Sean Bakers „Anora“ (Palmengewinner 2024) widmet sich Trier der Erforschung subjektiver Verletzlichkeit. Doch kann ein solches Drama im Kontext globaler Umbrüche überhaupt noch relevant sein? Vielleicht gerade heute, wie einst in den 1970er-Jahren, als sich Menschen von der Weltpolitik abwandten, manche sich Hippies anschlossen und Trost in Indien suchten, geschieht dasselbe im Kino, wo die Regisseure ins Persönliche fliehen.
Der neue Trend
Das Kino wird erwachsen. Glamour und Starruhm verlieren an Bedeutung. Einer der auffälligsten Trends des Festivals waren die Regiedebüts berühmter Schauspieler: Kristen Stewart, Scarlett Johansson und Harris Dickinson. Alle drei Filme liefen im Wettbewerbsprogramm „Un Certain Regard“. Dies war nicht nur eine Geste des Ehrgeizes, sondern ein Manifest. 2025 streben Schauspieler danach, ihre Aussagen zu kontrollieren und ihre eigenen Bedeutungen zu schaffen.
Kristen Stewart verfilmte „The Chronology of Water“ nach den Memoiren von Lidia Yuknavitch. Der Film visualisiert radikale körperliche Experimente, durch die die Protagonistin ihre Emotionen zu verstehen lernt. Der Film ist eindeutig nichts für diejenigen, die stille Selbstreflexion bevorzugen. Stewart — als Schauspielerin wie als Regisseurin — kultiviert Dysfunktion als Zeichen von Genialität. Sie setzt auf Provokation statt auf Nachdenklichkeit — ein Stil, der wohl ein Publikum ansprechen kann, das soziale Netzwerke als Informationsquelle nutzt und auf starke, plakative Aussagen reagiert.

Der Brite Harris Dickinson, bekannt aus „Triangle of Sadness“ und für seine jüngste Rolle an der Seite von Nicole Kidman in „Babygirl“, gab sein Regiedebüt mit „Urchin“. Der Film erzählt von einem verlorenen jungen Mann in London – zart, düster, ehrlich. Man könnte sagen, Urchin ist ein Film über Vertrauen: darüber, wie sehr wir bereit sind, an menschliche Anständigkeit zu glauben, selbst bei den Unzuverlässigsten. Eine gelungene Balance aus visueller Kraft und philosophischer Tiefe. Viele Fragen werden gestellt, mache sogar beantwortet — überraschend viel für einen Regisseur, der erst 28 Jahre alt ist.
Scarlett Johanssons „Eleanor The Great” erzählt in einer fein abgestimmten Tragikomödie die Geschichte einer 94-jährigen Frau, die sich eine Holocaust-Biografie aneignet — in Wahrheit die Geschichte ihrer verstorbenen Freundin. Was als rührende Lüge beginnt, wird zur moralischen Frage: Darf Empathie die Wahrheit überschreiben? Johansson beweist ein feines Gespür für Ton und Timing — ein Debüt mit Oscar-Potenzial, aber ohne Opportunismus.

Der Glanz verblasst – mit Absicht
Der rote Teppich glänzt noch, doch die Outfits sind dezenter geworden. Der Fokus der Luxusmarken und Sponsoren hat sich nach Asien verlagert. Bei Premieren dominieren Models aus Korea, China und Indien, in den Kinosälen spricht jeder Fünfte Chinesisch. Der neu geschaffene Jurypreis ging an den chinesischen Regisseur Bi Gan – eine Entscheidung mit künstlerischer wie geopolitischer Dimension.
Gans Film „Resurrection“ wurde zur visuellen Symphonie, die dem hundertjährigen Jubiläum des Weltkinos gewidmet ist. Kern der Handlung ist eine Welt der Zukunft, in der die Menschheit ewiges Leben erlangt, nachdem sie ihre Träume aufgegeben hat. Doch inmitten der sterilen Unsterblichkeit gibt es diejenigen, die weiter träumen. Einer dieser sogenannten „Fantasmer“ wird zum Helden der Geschichte. Der Film ist ein subtiles Statement über die Rolle der Vorstellungskraft im Zeitalter von Algorithmen und unsterblicher Rationalität.

Das Kino in der Schwebe – und doch lebendig
Cannes 2025 war kein lautes Festival. Kein Feuerwerk, keine Skandale. Das Festival erinnerte daran, dass Kino nicht immer Parade ist, sondern vielmehr ein Spiegel. Es reflektiert nicht nur seine Zeit, es hilft, sie zu verstehen. Selbst in einer Zeit der Instabilität bleibt das Kino eine lebendige Kunst, die sich anpassen, verstehen und provozieren kann. Persönliche Dramen, politische Herausforderungen, technologische Experimente – all das wurde Teil eines neunen Dialogs. Im Mittelpunkt stehen nicht die Stars, sondern Menschen, die beschlossen haben, ihre Geschichten neu zu erzählen. Und vielleicht ist genau das der größte Verdienst dieses Festivals.