Die Story des Films „I Am Still Here“ des brasilianischen Regisseurs Walter Salles beginnt mit malerischen, warmen Szenen am Strand von Rio de Janeiro. Familien genießen einen sonnigen Tag, Jugendliche spielen Volleyball, und Kinder Fußball. Mädchen tragen zum Bräunen Coca-Cola auf ihre Haut auf, während sie Klatsch und Tratsch über Popstars und die Jungs austauschen. Im glitzernden Wasser liegt Eunice Paiva (Fernanda Torres) auf dem Rücken und blinzelt in die Sonne. Ihr jüngerer Sohn findet mit seinen Freunden einen streunenden Hund und eilt nach Hause, um seinen Vater zu überreden, den Hund zu behalten. Die Handlung verlagert sich in ein geräumiges Haus in Strandnähe, in dem die wohlhabende bürgerliche Familie Paiva lebt. Rubens (Selton Mello), ein Ingenieur, arbeitet gerade in seinem Büro, als ihm ein neues Hausmitglied vorgestellt wird. Die Haushälterin ist in der Küche beschäftigt, und im Haus herrscht ebenfalls Wärme und Lebendigkeit. Vor dem Hintergrund der Geborgenheit und Liebe spüren wir konstant die drohende Gefahr, sei es durch den Lärm eines vorbeifliegenden Hubschraubers oder das Rumpeln von Militärlastwagen auf der Uferpromenade. Brasilien der 1970er Jahre steht unter einer Diktatur.
Das erste Alarmsignal ertönt, als die älteste Tochter Vera, die mit Freunden eine Autofahrt unternimmt, unsanft vom Militär angehalten wird. Die Mutter spürt die Gefahr und schickt Vera nach London, um der Gefahrenzone zu entkommen. Doch ein weiterer Schlag folgt schnell: Unbekannte Männer besuchen das Haus und nehmen Rubens mit, während eine weitere Gruppe im Haus stationiert wird und die Familie ständig überwacht. Bald werden auch Eunice und eine andere Tochter verhaftet. Der Zuschauer sieht Verhörszenen der Mutter, der Familie werden Untergrundaktivitäten gegen die Regierung und Verbindungen zu den Kommunisten vorgeworfen. Nach mehreren Wochen der Folter und Demütigung wird Eunice freigelassen und kehrt erschöpft zurück.
Trotz der Qualen, die Eunice durchmachte, ist ihr Geist nicht gebrochen. Ohne länger von ihrem Mann zu hören, übernimmt sie die Verantwortung für die Familie. Sie ziehen nach São Paulo um. Die Handlung folgt der Familie bis in die 1990er Jahre und weiter bis ins Jahr 2014, und zeigt ihre Mitglieder bis zur dritten Generation. Die Geschichte basiert auf dem Buch von Marcelo Paiva, dem Sohn von Rubens und Eunice, der Jugendfreund des Regisseurs war. Als Junge besuchte Salles das Haus in Rio, kannte das Haus und die ganze Familie. 2015 las er das Buch von Marcelo, und die Erinnerungen kamen wieder hoch, sodass er es zu unserem Glück als Zuschauer für notwendig hielt, die Geschichte auf die große Leinwand zu bringen.
Nach der Premiere in Venedig kommen einem zahlreiche Gedanken um die Zerbrechlichkeit des Glücks, um die Vergänglichkeit des Lebens, um Einsamkeit und Familie und um die zerstörerische Macht von Diktatoren und Politik, die unser Leben binnen eines Moments zerstören kann.
„The Brutalist“ ist ein interessanter, aber nicht unbedingt auf Filmfestivals zugeschnittener Film. Es ist, als würde Francis Coppolas „Der Pate“-Trilogie um die Goldene Palme konkurrieren lassen. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass Coppolas Pate zum Kultfilm wurde. Ursprünglich als Schauspieler, feierte Brady Corbet seine ersten Rrfolge als Regisseur in Venedig. 2015 erhielt sein Film „The Childhood of a Leader“ den Preis für den besten Regisseur und den besten Debutfilm.
Corbets dritter Film als Regisseur ist ein unbestreitbar zutiefst dramatisches und gut erzähltes Epos, das man gesehen haben muss. Die Handlung, im Stil eines Biopics, erzählt die fiktive Geschichte von Laszlo Troth, einem ungarischen Juden, der den Holocaust überlebt und in die USA emigriert. Nach zahlreichen Versuchen im Land der Träume bekommt Laszlo endlich seine Chance. Diese bietet sich in Form des amerikanischen Millionärs Harrison Lee Van Buren, eines Kunstkenners und Schätzer intellektueller Konversation. Van Buren erteilt Laszlo den Auftrag – den Bau eines Kulturzentrums zu Ehren seiner Mutter, einer gläubigen Christin. Doch selbst diese Gelegenheit erweist sich als zweideutig – eine Verhöhnung des Schicksals des verfolgten Juden, für das er teuer bezahlen muss.
Der Architekt bleibt nicht in Schulden, unter dem Deckmantel eines Kulturzentrums für die christliche Gemeinde errichtet Troth ein Meisterwerk postmoderner Architektur, dessen beeindruckende Betonmonolithen an das Leid der Juden im nationalsozialistischen Europa erinnern. Diese Arbeit wird für Laszlo zu einer Möglichkeit, seine Wahrnehmung einer Welt auszudrücken, in der seine Geschichte und die seines Volkes weiterhin relevant und schmerzhaft sind.
Laszlo Troth wird von Adrien Brody gespielt, und seine Figur wirkt wie eine Fortsetzung seiner Rolle aus „Der Pianist“. Auf den ersten Blick ist es nicht klar, was dramatischer ist: den hungernden Vladislav Szpilman aus „Der Pianist“ zu sehen, der die Schrecken des Krieges überlebt und nach der Befreiung seinen Traum erfüllt, wieder Chopin im Studio des polnischen Radios zu spielen, oder Laszlo Troth, der in das Land des Wohlstands zieht, um dort von seinem Cousin als Fremder behandelt zu werden, auf gleichgültige Kapitalisten zu treffen, die sich nicht für sein Leiden interessierten, und sogar, weiterhin Gewalt Demütigung zu erfahren, während er sich in der Umgebung des amerikanischen Traums als besonders verschärft empfindet.
Nachdem man diesen Film gesehen hat, glaubt man nun zu verstehen, warum so viele Juden, im Film auch Laszlos Nichte und ihr Ehemann, nach Israel auswanderten. Man beobachtet auch, wie antisemitische Stimmungen in der Gesellschaft bereits nach dem schrecklichen Versuch, eine ganze ethnische Gruppe zu vernichten, kultiviert wurden.
Viele Kritiker in Venedig nennen „The Brutalist“ bereits jetzt als den Besten Film des Jahres. Ich finde jedoch den Film von Walter Salles “I Am Still Here” besser, weil er die nötige Balance zwischen Licht und Dunkelheit bietet. In „The Brutalist“ liegt der Fokus hingegen auf der Qual der verkrüppelten Seele und der Hoffnungslosigkeit der Situation.