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Oscar-Gewinner Asif Kapadia geht dieser Frage in seinem neuen Dokumentarfilm 2073 nach. Sein neuester Dokumentarfilm 2073 ist eine düstere, futuristische Fantasie, inspiriert von Chris Markers La Jetée. In 2073 spielt Samantha Morton eine Überlebende in einer dystopischen Einöde, die in Armut lebt und immer wieder eine mechanische Taschenlampe benutzt, um über den Zustand der Welt nachzudenken. Dieser 85-minütige Dokumentarfilm behandelt drängende Themen wie den Klimawandel, den Unternehmensfaschismus und den Verfall der Demokratie, während er echtes Filmmaterial zu einem düsteren Bild unserer möglichen Zukunft zusammensetzt.

Kapadia erklärt seine Motivation für den Film: „Ich wollte es jetzt machen, weil ich etwas sagen wollte, selbst wenn es mein letzter Film sein sollte. Vielleicht haben wir nur noch 50 Jahre Zeit, um die Dinge zu regeln. Die Art, wie ich meine Filme mache, hat nichts mit meiner Meinung zu tun; wir finden Aufnahmen von dem, was die Leute gesagt haben, und zeigen es. Es ist nur so, dass die schlimmsten Szenen real sind. Wenn man all das zusammenfügt, fühlt es sich dystopisch an.“

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Asif Kapadia, Photocall in Venedig, Credits: La Biennale di Venezia

Das Thema des Verlusts von persönlicher Freiheit und Individualität zieht sich durch das Film Festival in Venedig. So erzählt der griechische Filmemacher Alexandros Avranas in seinem Film Quiet Life die Geschichte einer russischen Familie, die in ihrer Heimat politischer Repression ausgesetzt ist. Doch der Verlust familiärer Bindungen und vor allem der Individualität bedroht sie sogar im scheinbar demokratischen Schweden, wo übermäßige politische Korrektheit die Menschlichkeit auslöscht. Dieses Thema wurde nicht nur in politisch aufgeladenen Filmen, sondern auch in eher mainstream- und unterhaltungsorientierten Filmen untersucht. Im psychologischen Erotikthriller Babygirl mit Nicole Kidman wird die Natur der politischen Korrektheit und ihre Auswirkungen auf das menschliche Verhalten hinterfragt. Ähnlich wird im Nachfolger von Joker die Figur des Arthur Fleck, gespielt von Joaquin Phoenix, auf ein bloßes Werkzeug für die Ziele anderer reduziert. Sobald er jedoch aufhört, den Joker zu spielen, wird er überflüssig und kann beseitigt werden.

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Die Crew von 2073 in Venedig, Credits: La Biennale di Venezia

Der Regisseur spricht über den Ursprung seiner Idee: „Dieser Film begann mit dem Brexit. Ich sah, wie sich das in meinem Land entwickelte, und fragte mich, warum jemand dafür stimmen würde, sein Leben zu verschlechtern, sich selbst ärmer zu machen, sich von Europa abzukoppeln. Darunter lag Rassismus.“

Auf die Frage nach möglichen Konsequenzen für die Präsentation solch kritischer Inhalte äußerte Kapadia Bedenken über mögliche Reisebeschränkungen. Er sagte: „Wahrscheinlich werde ich nicht mehr reisen dürfen oder mein Telefon und das Internet nicht mehr benutzen können. Wie nennt man das, wenn man Angst hat, zu sagen, was passiert? Wenn man besorgt ist, seinen Job zu verlieren, und sie einschränken, was man denkt und sagt? Aufgrund der Natur meiner Arbeit bin ich viel gereist. Ich sah, was in der Welt geschah. Die Angst, sich zu äußern, die Einschränkungen in Gedanken und Ausdruck – das ist wirklich besorgniserregend.“

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Samanta Morton in 2073, Credits: La Biennale di Venezia

Der Film stellt aktuelles Nachrichtenmaterial den Bildern globaler Anführer und ihrer Unterdrückung des Widerstands gegenüber und rückt eine bedenkliche Riege von Plutokraten ins Rampenlicht — Modi, Trump, Putin und Orbán. Neu ist hier die Andeutung, dass all dies aus dem Silicon Valley orchestriert wird. Kapadias Vision der Zukunft umfasst eine utopische Stadt namens New San Francisco. Vielleicht zum ersten Mal werden verehrte Tech-Milliardäre wie Bezos, Zuckerberg, Musk und Thiel nicht als Vorbilder dargestellt, die von der modernen Jugend verehrt werden, sondern als Individuen, die ihr Vermögen durch das Sammeln und den Verkauf unserer persönlichen Daten gemacht haben. Kapadia hebt auch hervor, wie sich diese wohlhabenden Figuren auf potenzielle Katastrophen, wie etwa einen Atomkrieg, vorbereiten, indem sie Land in Neuseeland und Alaska kaufen, um Bunker zu bauen.

„Als ich mit diesem Projekt begann, sahen nicht viele Menschen Elon Musk negativ. Aber jetzt scheint er wie ein narzisstischer Psychopath zu sein, der von Macht besessen ist. Es wird immer offensichtlicher, besonders nachdem er Twitter gekauft hat. Es ist ein großes politisches Spiel. Etwas stimmt nicht, wenn die Welt von Menschen regiert wird, die keine Empathie und keine Menschlichkeit haben“, kommentierte der Regisseur.

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Premiere von 2073 in Venedig, Credits: La Biennale di Venezia

Kapadia kritisiert die Normalisierung von Überwachung und Datensammlung. Er stellte die Notwendigkeit persönlicher Informationen in alltäglichen Situationen in Frage und erinnerte sich an einen Fall, bei dem er aufgefordert wurde, die Namen seiner Kinder für ermäßigte Museumstickets preiszugeben. Als er dies ablehnte, wurde ihm der Eintritt verwehrt. Auch die Akzeptanz von Fingerabdrücken für Schulspeisungen in Großbritannien findet er beunruhigend. „Wann wurde das zur Normalität?“ fragt er. „Kinder geben ihre Fingerabdrücke ab – wer will das?“

Der Filmemacher vermeidet auch weise die häufige Neigung, selbst in den düstersten Darstellungen gesellschaftlicher Dysfunktion ein „hoffnungsvolles Ende“ zu präsentieren. Hätte er eine einfache Lösung angeboten, hätte dies die Wirkung des Films geschmälert und die Zuschauer davon entbunden, sich mit seiner These auseinanderzusetzen. Wie der Filmemacher sagt: „Dies ist keine Fiktion. Dies ist keine Dokumentation. Dies ist eine Warnung.“

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