Der Goldene Löwe der Internationalen Filmfestspiele Venedig ging an das US-Drama „Nomadland“ der chinesischen Regisseurin Chloé Zhao. Die Geschichte handelt es sich um einen wirtschaftlichen Zusammenbruch der modernen (in diesem Fall amerikanischen) Gesellschaft und eine ältere Frau, die aus dem System aussteigen will. „Nomadland“ wurde von den Filmkritikern fast ausschließlich gelobt, ich konnte aber bei der Premiere in Venedig kaum das Ende des Filmes abwarten.
Während der Pressekonferenz sagte die Hauptdarstellerin Frances McDormand, dass die Crew „das Lebens eines Menschen statt das Prozess des Filmemachens ehren wollte“. Ich muss wohl einen Film nach dem Motto „Kunst um der Kunst willen“ bedeutungsvoller finden, als eine Hommage an das menschliche Dasein.
„Nomadland“, eine Adaption des Romans „Nomadland: Surviving America in the 21st Century“ von Jessica Bruder, besteht aus Skizzen über das Schicksal der Amerikaner. Eine Reihe von poetischen, wenn auch alltäglichen Episoden ohne direkte Sentimentalität, die sich in der Hauptfigur vereinen und mir doch etwas eindimensional erscheinen. Von außen betrachtet können wir behaupten, dass sich vor unseren Augen das Panorama einer riesigen Zivilisation bei ihrem Untergang entfaltet. Der Zuschauer wird mit philosophischen Fragen konfrontiert, etwa, ob die materiellen Dinge nötig sind und worauf es im Leben wirklich ankommt. Konkret entwickelt sich vor den Augen der Zuschauer eine Geschichte, in der eine 61-jährige Frau nach der Wirtschaftskrise 2007-2009 ihren Job und den Ehemann verliert, ihre Sachen packt und mit ihrem Van auf eine Reise ohne Plan und Ziel geht.
Sprechen wir zuerst darüber, warum dieser Film bei vielen Zuschauern so gut ankam. Es handelt sich um das „maskuline Genre“ Roadmovie, bei dem normalerweise ein Mann im Mittelpunkt der Handlung steht. Wir sehen hier nicht nur eine Frau, sondern eine Frau im reiferen Alter (Anfang der 70er). Der Film bezieht sich auf die Klassiker des amerikanischen Kinos, auf die Western der 50er-und 60er-jahre, die die Magie der Straße, die Natur des wilden Westens, Cowboys, Beatniks und Hippies glorifizieren. Doch hier sehen wir keine romantisierten Figuren, sondern gewöhnliche Menschen aus dem Arbeitermilieu, unsere Zeitgenossen, die kein Zuhause und keinen festen Arbeitsplatz haben, sondern gezwungen sind, ein Nomadenleben zu führen.
Die Regie hat ebenfalls eine Frau geführt, Chloé Zhao. Sicherlich hat die Chinesin, die gerade wegen ihres angekündigten Blockbusters „The Eternals“ besondere Aufmerksamkeit in Hollywood und somit auch in der ganzen Welt auf sich zieht, den Zeitgeist genau getroffen: Viele Menschen müssen heute mit radikalen Politikern leben und werden mit Covid-19 sowie einem erstarkenden Nationalismus/Rassismus konfrontiert. Bei den meisten Zuschauern wurde im Film die Hoffnung auf eine Art der Befreiung von den erdrückenden Lebensbedingungen geweckt. Nicht bei mir.
Diese Hoffnung wird von einer Ideologie genährt, dass die Reichen (1 % der Bevölkerung) ein Kunstwerk bestellen, um den bescheidenden Geschmack der Armen (also die restlichen 99 %) zu befriedigen und sie zu beruhigen. Das ist das alte Prinzip “Brot und Spiele”. Auf den ersten Blick scheint es, als ob der Film die Freiheit glorifiziert und über die Tatsache spricht, dass selbst diejenigen, die nichts besitzen, die Wahl haben, die Konventionen der Gesellschaft hinter sich lassen und sich zu befreien. Auch wenn sie zwischendurch Geld verdienen müssen, indem sie als Packer bei Amazon schuften, auf öffentlichen Toiletten Erbrochenes und Fäkalien beseitigen oder im Schnellrestaurant Würstchen braten. Die Darsteller werden als Helden unserer Zeit gefeiert, die die Freiheit über alles, etwa wie ein warmes Zuhause und menschliche Beziehungen (Familie, Liebe, Partnerschaft) stellen. Aber in meinem Kopf kreiste ständig die Frage, ob diese Wahl des Lebensstils unsere Gesellschaft in irgendeiner Weise verbessert, ganz abgesehen von der Tatsache, dass die öffentlichen Toiletten tatsächlichen von irgendjemandem geputzt werden müssen.
Die meisten Menschen können sich nicht vorstellen, dass man auch frei sein kann, wenn man in verschiedenen Teilen der Welt komfortable Villen besitzt und uneingeschränkt reist, und dass vielleicht nicht im Van, sondern mit dem eigenem Jet um die Welt düsen kann, ohne sich an einem Ort niederlassen zu müssen. Dabei braucht man die Reise nicht wegen der Arbeit zu unterbrechen. Oft wird sie unterwegs erledigt und besteht sogar aus etwas, was man tatsächlich liebt und wobei man das persönliche Potenzial entfalten kann. Doch was nützt es, so einen Film zu zeigen? Er wird nun skeptischen Lächeln und verächtliche Bemerkungen hervorrufen, als banal in seiner Unglaubwürdigkeit bezeichnet werden. Dem Volk wird eine Lösung fürs Volk angeboten. Sie tröstet und kostet auch nicht viel.