Das 78. Internationale Filmfestival von Cannes wurde am 13 Mai eröffnet – und das mit theatralischer Geste. Auf der Bühne trat der amerikanische Regisseur Quentin Tarantino, der von dem Moderator des Abends, dem französischen Schauspieler Laurent Lafitte, der ihn als „den unfreundlichsten und offen egoistischsten Regisseur“ vorstellte. Tarantino brüllte ins Publikum: „Das Internationale Filmfestival von Cannes ist offizieeeell eröffneeeet!“, ließ theatralisch das Mikrofon fallen und verließ die Bühne. Doch schon vor diesem Auftritt hatten die Festivalgäste genug Gründe zum Staunen bekommen.

In Solidarität mit den französischen Kinos hatten die Veranstalter beschlossen, die Eröffnungszeremonie in Hunderten Sälen im ganzen Land live zu übertragen. Doch ausgerechnet im benachbarten Theater Debussy, wo die Journalisten auf eine Übertragung warteten, funktionierte nichts – trotz rotem Teppich kein Bild, kein Ton.
Die Jury wurde mit besonderem Fokus auf ihre Präsidentin vorgestellt – die französische Schauspielerin Juliette Binoche, die fast wie eine Heilige erschien: in einem weißen Hosenanzug von Dior Haute Couture und mit weißem Schleier auf dem Kopf.

Danach erschien Leonardo DiCaprio vor dem Publikum – begleitet von einem überraschend feierlichen Intermezzo Cavalleria rusticana von Pietro Mascagnis. Er sollte die Ehrengabe der Goldenen Palme an Robert De Niro überreichen – und erinnerte daran, wie dieser „sein Leben für immer veränderte“, als er ihn die Rolle in This Boy‘s Life(1993) auswählte.
„Das Casting war hart“, erzählte DiCaprio später. „Es gab viele Bewerber und niemand wusste, wer die Rolle bekommt. Ich war 15 oder 16 und ich wusste mir nichts anders zu helfen – also schrie ich aus voller Kehle. Alle im Raum lachten. Später saß Bob (so nennen Freunde und Kollegen De Niro) mit dem Produzenten im Flugzeug, und der fragte ihn: „Wen willst du für die Rolle? Und De Niro gab trocken – ganz wie man es von ihm kennt – zurück: ‚Das zweite Kind aus der letzten Reihe‘. Zum Glück war ich dieses Kind.“
Die Geschichte ging weiter: DiCaprio erzählte, dass De Niro kein Mann vieler Worte war – aber die wenigen waren stets die richtigen. Es waren genau diese wenigen Worte an Martin Scorsese gewesen, die Leo den Weg zu weiteren Rollen und schließlich zum Ruhm ebneten.
„Und heute“, so DiCaprio, „wenn De Niro – dieser distanzierte, wortkarge Mann – mir wenigstens ein halbes Lächeln schenkt, dann kann ich mich schon gesegnet fühlen.“

Übrigens: De Niro begnügte sich an diesem Abend nicht nur mit einem Lächeln für Leo – er umarmte ihn gleich dreimal und ließ ihn sogar seine Ehrenpalme tragen, wenn auch unter dem amüsierten Gelächter des Publikums. Für den eigentlichen Paukenschlag des Abends sorgte jedoch seine leidenschaftliche politische Rede: Mit scharfer Kritik wandte sich De Niro gegen die aktuelle Politik der USA – insbesondere gegen die drastischen Kürzungen im Kultur- und Bildungssektor.
„Kunst lebt von Vielfalt“, sagte er. „Gerade deshalb ist sie eine Bedrohung für Autokraten.“ Er bezeichnete die Filmfestspiele von Cannes als seine Gemeinschaft – und forderte die Gäste auf, deren Zusammenhalt in den kommenden zwei Wochen gebührend zu feiern.
Zum ersten Mal in der langen Geschichte des Festivals wurde es mit einem Debütfilm eröffnet: Partir Un Jour, einer französischen Komödie von Amélie Bonnin. In der Hauptrolle: Sängerin Juliette Armanet, ebenfalls Newcomerin auf der großen Leinwand. Sie spielt eine ehrgeizige Küchenchefin, die von einem Michelin-Stern träumt – und sich plötzlich, dem Schicksal sei Dank, als Gehilfin in der Provinz wiederfindet, in der heruntergekommenen Raststätten-Gaststätte ihrer Eltern. Die Besetzung war kein Zufall – denn der Film ist ein Musical.

Gesungen wird an Orten, die alles andere als glamourös sind: in fettigen Küchen, auf durchzechten Grillfesten und in Dorfdiscos. Ein Panoptikum des französischen Landlebens, wie es realistischer kaum sein könnte – mit Motorradrennen, kleinen und großen Familiendramen, und Songs, die klingen wie aus einer ganz persönlichen Playlist. Von modernen Popstücken wie Femme Like U bis hin zu Klassikern wie Paroles, paroles…, einst interpretiert von Dalida und Alain Delon. Man darf annehmen: Der Film wird vor allem bei frankophonen Zuschauer:innen Anklang finden.

Der 14. Mai stand fast ganz im Zeichen von Tom Cruise. Seine außer Konkurrenz laufende Mission: Impossible – The Final Reckoning – und viele hoffen, dass diese Mission tatsächlich die letzte sein wird – war das zentrale Ereignis des ersten Tages. Schon am Morgen, lange vor der Filmpremiere und sogar vor der Pressevorführung, trat das Filmteam unter der Leitung von Tom Cruise und Regisseur Christopher McQuarrie zur Pressekonferenz an. Anschließend folgte ein Masterclass, in dem Cruise ausführlich erklärte, wie er seine Stunts ausführte, während McQuarrie von den Dreharbeiten unter Pandemiebedingungen und zwei Streiks – der Drehbuchautoren und der Schauspieler – berichtete.
Die abendliche Premiere endete mit dem siebenminütigen stehenden Beifall und den langen Reden – zuerst vom Regisseur, dann von Cruise selbst.

Mission: Impossible hat zweifellos zwei Arten von Zuschauern: leidenschaftliche Fans, für die das Event ein Fest ist, und andere, die während der Premiere das Kino verließen – sobald der 62-jährige Schauspieler (zugegeben, das war beeindruckend) mit seinen lebensgefährlichen Akrobatikeinlagen begann.
Dem Schauspieler, der mittlerweile im vierten Jahrzehnt seiner Karriere steht, gebührt Respekt: Er riskierte wirklich sein Leben für das Projekt. Bekannt ist, dass Cruise alle Stunts selbst durchführt und damit die Grenzen menschlicher Ausdauer immer wieder neu auslotet.
Nach dem Triumph mit Top Gun: Maverick, der Cannes 2022 mit ebenfalls einer stehenden Ovation verzauberte, begleitet von der spektakulären Formation von acht Kampfjets, die zur Premiere über dem Festivalpalast flogen, und der Verleihung der Ehrenpalme an Cruise – sowie Einnahmen von 1,46 Milliarden Dollar weltweit – stellt sich die Frage: Kann die neue Mission an den Erfolg des Top Gun-Films anknüpfen? Das ist noch ungewiss. Doch eines steht fest: Tom Cruise beherrscht nach wie vor die Kunst, einen echten Blockbuster zu schaffen.