Auf der 69. Berlinale herrschte eine seltsame Stimmung. Alle wussten, dass der langjährige Festivaldirektor Dieter Kosslick seinen Posten aufgeben wird, doch nur wenige haben geahnt, welche Auswirkung diese Tatsache auf das diesjährige Festival hatte: Es gab keine Stars und keinen Glamour. Für die meisten Filmjournalisten – und nur wenige von ihnen sind heutzutage festangestellt – hieß das, keinen Verdienst zu erhalten. Ein Freund hat die Festival-Highlights folgendermaßen zusammengefasst: „Juliette Binoche habe ich mehrmals interviewt. Ozon dreht ja jedes Jahr einen neuen Film, den spreche mal wieder in Cannes. Und Charlotte Rampling hat ja seit langem keine neuen Filme gemacht“.

Er kam nicht nach Berlin, weil er zu den Journalisten gehört, die ihre Reise erst nach der Programmveröffentlichung buchen. Eine italienische Kollegin, die Vorbereitungen im Voraus traf und aus diesem Grund die Reise nicht mehr absagen konnte, meinte: „Eigentlich sollte der scheidende Direktor sich besser um sein Image kümmern“. Ob die Situation mit dem Weggang des Festivaldirektors zusammenhängt, bleibt einem Außenstehenden schließlich unklar.

Dieter Kosslick ©Berlinale

Den Kollegen, die sich doch nach Berlin gewagt haben, blieb nichts anderes übrig, als dieses Jahr eine ruhige Berlinale ohne zahlreiche Interview und Partys zu genießen. Sogar in der Golden Bär Lounge gab es dieses Jahr keinen Kaffee, sie hatte keine Sponsoren gefunden. Aber ein Festival ohne Menschenmengen, ständiges Herumlaufen hat ja auch Vorteile, es ist eine Art intensiver Kultururlaub. Endlich hatte man Zeit, ins Kino zu gehen und sogar den einen oder anderen Film bis zum Ende anzuschauen. Das war die letzten Jahre nicht möglich.

In diesem Jahr hat die Berlinale angekündigt, das Festival den Frauen zu widmen. Tatsächlich wurden von 16 Filmen im Wettbewerb sieben von Regisseurinnen gedreht. Der Festivaldirektor betonte allerdings, die Filme nach Qualität und nicht nach Gender ausgewählt zu haben. Im Vergleich zum Festival in Cannes schloss die Berlinale die Angebote von Streaming-Diensten wie Netflix und Amazon Studios nicht aus. Die Jury wurde von der französischen Schauspielerin Juliette Binoche geleitet, die für ihre kompromisslose Position zur Gleichstellung der Geschlechter in der Filmbranche bekannt ist. Dieter Kosslick unterzeichnete in Berlin eine Erklärung, die zu mehr Geschlechtergerechtigkeit auf dem Festival und im Markt beitragen soll. Ob dies einen radikalen Schritt in Richtung Gleichberechtigung der Frauen bedeutet?

Sicherlich gilt die Französin Binoche als eine würdige Jury-Kandidatin. Allerdings hatte die Berlinale auch schon Meryl Streep diese Rolle gegeben. Und Streep setzt sich für Frauenrechte viel radikaler ein als ihre französische Kollegin. Die Aussage über die Qualität der ausgewählten Filme der Regisseurinnen scheint auch nicht ganz zu stimmen. Denn so misogyn es auch klingen mag – die Frauenbeträge waren im Vergleich zu Filmen ihrer männlichen Kollegen nicht sehr überzeugend, das auch die Preisvergabe bestätigt.

Nadav Lapid freut sich über “Goldenen Bären” ©Berlinale

Den Hauptpreis des Festivals, „den Goldenen Bären“ bekam „Synonymes“, ein persönliches Drama des israelischen Regisseurs Nadav Lapid, der über seine Immigration nach Paris in früheren Jahren und die Folgen eines Versuchs der Identitätsänderung erzählt.

Den zweiten Preis bekam der Franzose François Ozon für „Grace à Dieu“ über Missbrauch durch katholische Priester in der Diözese von Lyon. Im Kino lässt man sich üblicherweise etwas Zeit, die „wahren“ Geschichten zu erzählen, um der Wirklichkeit beizukommen. Doch Ozon entschied sich, sein Projekt so schnell wie möglich, zu beenden und so mit den Ereignissen Schritt zu halten. Der Kardinal Barbarin und weitere Angeklagte stehen zur Zeit in Lyon vor Gericht und das Urteil soll nun im März gesprochen werden. Für sein Werk bekam Ozon bekam er einen Silbernen Bären.

The Kindness of Strangers ©Berlinale

Kein Film einer weiblichen Regisseurin erhielt eine ähnliche Wertschätzung. Obwohl das Festival mit dem Film einer Regisseurin eröffnet wurde, schien der Beitrag der Dänin Lone Scherfig „The Kindness of Strangers“ eher schwach, nicht nur, weil der Film zur Eröffnung weder mit Star-Auftritten, noch mit großer Filmkunst beitrug, sondern weil die Protagonisten schon zwei Stunden nach der Vorstellung nicht mehr richtig in Erinnerung geblieben und weil ihre Taten irrational und belanglos sind, genau wie ihre Porträtierten. Es mag sein, dass Scherfig die Geschichten über Loser bevorzugt, aber man hofft doch bis zum Schluss, dass sie wenigstens etwas Charme besitzen. Es ist nicht verkehrt, in unserer „Ära der Feigheit“ die Menschen zum notwendigen Zusammenhalt zu animieren, doch sollte man dies auch mit etwas mehr Herz und Überzeugung tun. Denn schließlich dreht die Regisseurin ihre Filme über Verlierer, sie will wohl kaum selbst zu ihnen gezählt werden.

Elisa y Marcela ©Berlinale

Auch wenn während der Berlinale viel über den Vorteil von Streaming diskutiert wurde, praktisch waren diese Filme im Programm nicht vorhanden. Vielleicht nur „Elisa y Marcela“ der spanischen Regisseurin Isabel Coixet. Coixet, die in ihrer Heimat sowie auf der ganzen Welt für ihr elegantes Frühwerk wie „Mi vida sin mi“, „La vida secreta de las palabras“ oder „Elegy“ bekannt ist, brachte diesmal eine Geschichte über eine markante Liebe zweier Frauen nach Berlin. Beide Damen haben es geschafft, 1901 für ihre Hochzeit (natürlich verkleidet) den Segen der katholischen Kirche Spaniens zu erhalten. Doch diese Ereignisse werden in Coixet‘s Werk ohne viel Geschick dargestellt: Die spannendsten Momente kommen erst in der 60. Minute einer zweistündigen Handlung. Mehr als die Hälfte des Filmes wird der Zuschauer mit süßlichen Szenen lesbischer Liebe konfrontiert.

Mr Jones ©Berlinale

Die polnische Regisseurin Agnieszka Holland hat einen gut gemachten Film präsentiert, „Mr Jones“ , für welchen sie aber keinen Preis bekam. Vielleicht erkannte die scharfsinnige Madame Binoche, dass die Geschichte zu radikal ist. Natürlich musste der Mut des britischen Journalisten Jones gewürdigt werden, der möglicherweise vom sowjetischen Geheimdienst umgebracht worden war. Wenn man jedoch über historische Ereignisse spricht, sollte man die Fakten genau berücksichtigen und sie nicht im eigenen Interesse zurecht biegen.

Niemand behauptet, dass Stalin keine Verbrechen in Russland begangen hat (damals gehörte die Ukraine zu Russland) und die Hungersnot (Holodomor) dort war Folge der Verbrechen. Aber diese Katastrophe umfasste nicht nur die Ukraine, sondern auch viele andere Gebiete Russlands. Sie traf auch die Wolga-Region schwer. Leider schweigt Agnieszka Holland darüber, weil sie ja die Botschaft durchzusetzen versucht, dass Russland schon damals Ukrainer zerstören wollte. Das ist keine objektive Darstellung der Geschichte, insbesondere wenn man dabei bedenkt, dass Polen immer Ansprüche auf diese Region angemeldet hat.

Es ist klar, dass Stalins Aktionen auch auf seine fanatischen Ideen – einschließlich der seiner unbegrenzten Macht sowie der Unterstützung der Revolution selbst – zurückzuführen sind. Was ist aber mit dem britischen Journalisten? Wollte er etwa nicht die Leben von britischen Ingenieuren opfern, um seine Wahrheit zu erzählen? Es ist interessant, dass diejenigen, die die Konflikte anheizen, anstatt sie zu beruhigen am meisten profitieren. Man fragt sich ebenfalls, warum die polnischen Regisseure so viele aktuelle Filme Russland, insbesondere Stalin-Regime widmen, anstatt ihre eigenen Politiker von 1930-1950 zu analysieren. Wahrscheinlich haben sie doch nicht genug Mut dafür, mit ihrer eigenen Regierung in Konflikt zu treten. Wenn Holland bei der Pressekonferenz in Berlin so dreist angibt, Journalisten „als Werkzeug, um die Wahrheit aufzudecken“, zu benutzen, denkt man darüber nach, ob sie vielleicht längst selbst zum Werkzeug einer Propaganda geworden ist.

Vice @Universumfilm

Durch einen Zufall wurde der „männlichste Film“ der Berlinale gleichzeitig zum weiblichsten. Er stimmte auch ausgezeichnet mit dem Motto des Festivals „Das Private ist politisch“ überein, trotz der Bemerkung von Kosslick: „Bei einem Film ahnten wir gar nicht, wie viel Aufmerksamkeit er bekommen würde“. Der Film „Vice – Der zweite Mann“ von Adam McKay, in dem es um die Machenschaften des US-Vizepräsidenten Dick Cheney geht, spürte tatsächlich dem wahren Grund seiner Macht auf: Die Anwesenheit einer Frau an seiner Seite, die aus ihm einen führenden Politiker machte und ihn zu vielen seiner Strategien motivierte.

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