Das älteste Filmfestival der Welt ist an diesem Wochenende mit dem Triumph eines Dokumentarfilms zu Ende gegangen. Die amerikanische Regisseurin Laura Poitras erhielt bei den Filmfestspielen den Goldenen Löwen für ihr Dokumentarwerk, den Film “All The Beauty and The Bloodshed”. Damit wurde sie – nach den Nominierungen von Chloe Zhao und Audrey Diwan in den vergangenen Jahren – zu dritten Regisseurin in Folge, die in Venedig den Hauptpreis erhielt.
Dieses Jahr nahm Venedig so viele Netflix-Projekte in den Wettbewerb auf, dass es schien, als würde die Streaming-Plattform endlich einen lang ersehnten Festivalpreis erhalten. Die internationale Jury unter der Leitung der amerikanischen Schauspielerin Julianne Moore ließ Netflix-Produktionen jedoch leer ausgehen. Die Jury überraschte allerdings damit, dass sie – angesichts der Fülle an wunderbaren Filmen in diesem Jahr – die meisten Preise nur an zwei bis drei Filme vergab. Der Italiener Luca Guadagnino bekam den Preis des besten Regisseurs für die Geschichte über Kannibalen „Bones and All“ mit Timothée Chalamet und Taylor Russell in den Hauptrollen. Die kanadische Schauspielerin Taylor Russell wurde zur besten Jungdarstellerin gewählt.
Das gut inszenierte Drama beschäftigte sich mit der Frage, inwieweit Wesen, die sich zu sehr von der allgemeinen Masse unterscheiden, einen Platz unter „den anderen“ finden können. In existenzieller Hinsicht muss ein solches Thema wohl von großer Bedeutung sein, aber angesichts der aktuellen sozial-politischen Ereignisse vielleicht nicht so sehr. Ein anderer Preisträger, Martin McDonagh, erhielt den Award für das beste Drehbuch für „The Banshees of Inisherin“ über das langweilige Leben und die komplizierten Beziehungen der Bewohner einer gottverlassenen irischen Insel zu Beginn des letzten Jahrhunderts. Der Preis für den besten Schauspieler (die Coppa Volpi) ging an Colin Farrell, der beweged und ironisch den ländlichen Dummkopf darin darstellte und sein kleines persönliches Drama über Entfremdung von seinem besten Freund spielte.
Somit erhielt McDonagh seinen zweiten Drehbuchpreis in Venedig, nachdem er vor fünf Jahren für „Three Billboards Outside Ebbing, Missouri“ geehrt wurde. Cate Blanchett wurde als beste Darstellerin für ihre Rolle als selbstbewusste Orchesterdirigentin Lydia Tar in „Tar“ unter der Regie von Todd Field ausgezeichnet. Dies ist die zweite Preisverleihung für die Australierin in Venedig. Vor 15 Jahren gewann sie die Coppa Volpi für ihre Darstellung von Bob Dylan in „I’m Not There“. Weil die Festspiele in Venedig inoffiziell die Oscar-Saison einleiten, ist es höchstwahrscheinlich, dass sowohl der Film “Tar“, als auch seine Hauptdarstellerin noch weitere Nominierungen erhalten, diesmal in Los Angeles Anfang nächsten Jahres.
Die aktuellen politischen Ereignisse üben sicherlich einen großen Einfluss auf internationale Filmfestivals aus und verlangen von ihnen, soziale Verantwortung zu zeigen. Auf der Liste der Preisträger stand erwartungsgemäß der Iraner Jafar Panahi, der derzeit eine sechsjährige Haftstrafe verbüßt. Sein Film „No Bears“ erhielt den Sonderpreis der Jury. Auch die „Black Lives Matter“-Bewegung wurde nicht ignoriert, und der Grand Jury Prize ging an die senegalesische Regisseurin Alice Diop (die früher als Dokumentarfilmerin gearbeitet hat) für „Saint Omer“ über den Prozess, der einer Frau wegen einer Kindestötung gemacht wird. Der Film erhielt außerdem eine zweite Auszeichnung für das beste Debüt.
Die Hauptgewinnerin Laura Poitras hat sich mit ihren 61 Filmen als Produzentin und 11 als Regisseurin längst einen Namen gemacht. In ihrem jüngsten Film „All The Beauty and The Bloodshed“ behandelt sie die berühmte Künstlerin, Fotografin und Aktivistin Nan Goldin. Die Hälfte des Films konzentriert sich auf Goldins Leben. Der Rest ist ihrer Kampagne von 2018 gegen die Familie Sackler gewidmet. Diese Familie, die als Mäzen großer Museen bekannt ist, bereicherte sich, indem sie die Verbraucher von Oxycodon abhängig machte, der Droge, die bereits eine halbe Million Amerikaner das Leben kostete. Goldin hat eine unglaubliche Energie in den Kampf gegen Sacklers gesteckt. Sowohl sie als auch Poitras repräsentieren den Aktivismus herausragender Persönlichkeiten ohne ideologische Dogmen und Beschwörungen – das macht die Geschichte besonders. Damit prämierte die Jury nicht nur Frauen, sondern auch die Realität selbst, die – heute noch mehr – viel beeindruckender ist als jede Fiktion sein kann.