Die Handlung von „L’Événement“ spielt in der französischen Provinz Anfang der 1960er-Jahre. In jener Zeit, als frei denkende Frauen noch nicht en vogue und Abtreibungen verboten waren und für eine Durchführung sogar eine Gefängnisstrafe drohte. Und um Abtreibung geht es. Denn Annie hat Pech. Die talentierteste Studentin ihrer Hochschule steht nun vor dem Dilemma, ob sie ihr Studium abbrechen und Hausfrau werden soll oder ob sie das Risiko eingeht, ein ungewolltes Kind loszuwerden. Dieser Film wurde von der französischen Regisseurin Audrey Diwan gedreht und wurde mit dem Hauptpreis, dem Goldenen Löwen der Filmfestspiele von Venedig ausgezeichnet. Das bemerkenswerteste an dem Film ist wohl seine Handlung. Dabei wurde sie ja aus dem autobiografischen Roman von Annie Ernaux übernommen.
Bereits das zweite Jahr in Folge werden beim Festival in Venedig „Frauenthemen“ gefeiert. Letztes Jahr war es der Film Nomadland von Festivalgewinnerin Chloé Zhao, ein Film über eine Frau Mitte 50, die ohne Geld, Job, Partner und Kinder dasteht, aber letztlich Freiheit und Glück findet. „L’Événement“ wirft die Frage auf, ob eine Frau selbst über ihren Körper entscheiden darf oder ob sie den Geboten der Gesellschaft folgen muss. Es scheint, dass die Jurymitglieder um den koreanischen Regisseur Bong Joon-ho mit möglichen Schlagzeilen nach der Preisvergabe − etwa wie „Französisches Abtreibungsdrama an der Spitze der Filmfestspiele von Venedig“ − gerechnet haben. Würde man nur ankündigen, „Audrey Diwan gewinnt den Hauptpreis der Filmfestspiele von Venedig“, wäre das keine Sensationsmeldung wert, weil Diwan mit ihrem zweiten Spielfilm wohl nur in Frankreich und hauptsächlich als Drehbuchautorin bekannt ist.
Wenn es nach mir ginge, hätte ich den Hauptpreis an den philippinischen Regisseur Erik Matti vergeben. Sein Film „On the Job: The Missing 8“ handelt von politischer Korruption sowie unehrlichem Journalismus, aber das ist gar nicht so wichtig, sondern die Art und Weise, wie er das verfilmt hat, ist beeindruckend. Sein Werk ist eine großartige Mischung aus Drama und Komödie, sozialer Wut und Fantasie. Die extreme Gewalt, die wir aus dieser Region etwa von Lav Diaz oder Brilliante Mendoza kennen, wird hier mit viel Humor inszeniert und von einem exzellenten Soundtrack begleitet. Aber die Auszeichnung dieses Filmes mit dem Goldenen Löwen würde wohl nicht für viel Aufsehen sorgen. Es wäre wohl auch nicht angemessen, den Film überhaupt nicht zu nominieren. Daher bekam der Hauptdarsteller John Arcilla den „Coppa Volpi“ als bester Schauspieler. Zur besten Darstellerin wurde Penelope Cruz für ihre Rolle in „Parallel Mothers“ von Pedro Almodovar gekürt. Sie war sie auch an der Seite von Antonio Banderas im Film “Offizieller Wettbewerb” zu sehen, übrigens einer sehr gelungenen spanisch-argentinischen Produktion über kontroverse Beziehungen in der Film- und Theaterindustrie.
Der Preis für das beste Drehbuch ging an Maggie Gyllenhaal für „The Lost Daughter“ und der Silberne Löwe für die beste Regie an Jane Campion für „The Power of the Dog“. In Gyllenhaals Regiedebüt nach dem Roman von Elena Ferrante geht es um eine Frau mittleren Alters, gespielt von Olivia Colman, die in Griechenland Urlaub macht und sich dabei an ihr vergangenes Leben, ihre Ehe und ihre gescheiterte Mutterschaft erinnert. Auch hier wird das Thema der Selbständigkeit einer Frau angesprochen, aber doch ziemlich in die Länge gezogen und unspektakulär umgesetzt.
„The Power of the Dog“ basiert auf dem gleichnamigen Roman von Thomas Savage, der in den 1920er-Jahren in Montana spielt. Hier sehen wir, wie die formalen Gesellschaftssitten mit den unkonventionellen Lebenseinstellungen in Konflikt geraten. Klassisch gefilmt, entwickelt sich die Handlung schrittweise und führt zu einer unerwarteten Kulmination. Campion weiß, wie man Filme dreht. Auch wenn sie keinen neuen Beitrag zur Kinokunst geleistet, wird ihre Geschichte bei den nächsten Oscar-Nominierungen 2022 bestimmt nicht unbemerkt bleiben.
Die Auszeichnung von Regisseur Paolo Sorrentino für „È stata la Mano di Dio“ mit dem Grand Prix erwies sich als wahrhaftig verdient. Nachdem der italienische Maestro im Alter von 16 Jahren seine Eltern verloren hatte, bereitete er sich lange darauf vor, diese sehr persönliche Geschichte seines Lebens zu erzählen. Er scherzt darüber, wie die Einladung zu einem Fußball-Match mit Maradona ihn vor dem Tod rettete. Sinnlich, nostalgisch und ironisch erzählt er von der Entwicklung eines jungen Mannes in seiner Heimatstadt Neapel in den 1980er-Jahren. Die Rolle des jungen Regisseurs übernimmt der Neuling Filippo Scotti, der mit dem Marcello Mastroianni Award als bester Nachwuchsdarsteller in Venedig ausgezeichnet wurde.
Ich nehme an, dass die Filmfestspiele von Venedig die Festivalsaison eröffnen, wie in den Jahren zuvor, als Filme wie „Nomadland“, „Roma“ oder „The Shape of Water“ in Venedig ihre Premiere feierten und dann gleich ins Rennen für die Oscars beziehungsweise die Golden Globes gingen. Warten wir mal ab, ob sich diese Annahme auch diesmal bestätigt wird.