Während der A-List-Filmfestivals sind es üblicherweise die bekanntesten Filmmagazine, die an der Veranstaltung teilnehmen und täglich ihre Sonderausgaben mit Berichten über die Filme veröffentlichen. Dabei handelt es sich um solche Publikationen wie Variety, The Hollywood Reporter und im Falle des Filmfestivals in Venedig auch das italienische Filmmagazin Ciak. In diesem Jahr sorgte die erste Festivalausgabe des Ciak Magazine mit der Schlagzeile “Um welche Uhrzeit ist das Ende der Welt?” für Aufsehen. Tatsächlich beschäftigten sich die italienischen Filme der ersten Festivaltage mit Themen wie der Zerstörung der Menschheit und den Reaktionen darauf.
Albert Einstein glaubte, dass die Unterscheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur eine Illusion sei. Die italienische Regisseurin Liliana Cavani (die in diesem Jahr vom Festival mit dem Ehrenpreis “Goldener Löwe” für ihre Karriere ausgezeichnet wurde) geht noch einen Schritt weiter. In ihrem Film “The Order of Time”, basierend auf Carlo Rovellis gleichnamigem Werk, verwandelt sie die Worte des Physikers und behauptet, dass Zeit gleichbedeutend mit uns selbst und unseren Emotionen sei. Wir nehmen die Vergangenheit durch Erinnerungen wahr, die Gegenwart kommt als Gefühl und Erfahrung zu uns, und die Zukunft wird durch Erwartungen und Hoffnungen gespürt.
In ihrem Film beschreibt die 90-jährige Regisseurin die Ereignisse, die dem vermeintlichen Ende des Lebens auf der Erde vorausgehen, aber sie tut dies in einer leichten zugänglichen Form. Die Handlung spielt sich auf einer Küstenvilla ab, wo sich eine Gruppe von Freunden versammelt, um den 50. Geburtstag der Gastgeberin des Hauses zu feiern. Aus zuverlässiger Quelle erfahren die Gäste, dass ein riesiger Asteroid unaufhaltsam auf die Erde zusteuert und bald auf unseren Planeten einschlagen wird. Nach dieser Enthüllung verändern sich sie geradezu. In ihren letzten Stunden teilen sie einander ihre geheimsten Träume, vertraulichen Gefühle und verbringen einfach Zeit miteinander. Reue, Bedauern, Hoffnungen und Wünsche – dieses Stück der Menschheit erlebt in einer privaten Umgebung so etwas wie eine Apokalypse. Das Ende der Welt rückt unaufhaltsam näher, und gemeinsam mit den Protagonisten bleibt dem Zuschauer die Frage, wie er seine letzten Stunden auf der Erde verbringen würde.
Die Handlung des Films “Comandante” von Edoardo De Angelis, der das Filmfestival von Venedig am 30. August eröffnete, basiert auf realen Ereignissen. Er erzählt die Geschichte von Salvatore Todaro, einem Helden des Zweiten Weltkriegs, der 1940 das U-Boot “Regia Marina” leitete. Eines Tages versenkt der Kapitän ein feindliches Schiff, beschließt jedoch, 26 belgische Seeleute zu retten, die sonst dem sicheren Tod geweiht sind. Dies tut er trotz des Mangels an Vorräten, beengter Bedingungen an Bord und ständiger Gefahr. Während des Krieges ist das Thema “Leben und Tod” besonders unvermeidlich, der Tod kann jederzeit eintreten, und den Seeleuten ist bewusst, dass sie vielleicht nie nach Hause zurückkehren werden. Doch auch in diesem Film, in ihren letzten Lebensminuten, zeigen die Menschen Mitgefühl und Humanität: Sie teilen Essen, erzählen Geschichten, singen Lieder und erinnern sich an ihre Familien und ihr Zuhause.
Salvatore Todaro ist kein gewöhnlicher Kapitän. Er besitzt die Fähigkeit, Ereignisse vorherzusagen und er betrachtet sich selbst als “Mann des Meeres”. Obwohl er auf der Seite der Faschisten kämpft, bewahrt er seine Würde, genauso wie das von ihm geliebte Meer, dass nach seinen eigenen Gesetzen lebt.
Die Schöpfer des Films appellieren an Werte wie Ethik, Prinzipien, Menschlichkeit und rufen die Zeitgenossen auf, ihnen ebenfalls zu folgen. Deshalb erscheint am Anfang des Films ein Kommentar darüber, wie ein ukrainischer Soldat im Jahr 2023 das Leben eines russischen Soldaten rettete. Dies verdeutlicht, dass zwischen uns die Mitmenschlichkeit existiert, selbst wenn die politischen Führer eine andere Sichtweise haben. Der Film hat auch eine Botschaft für die Italiener, damit sie stolz auf ihre Identität, ihre Kultur, ihre Lieder und ihren Patriotismus sind. Als am Ende der Mission fragt der feindliche Kapitän den Italiener, warum er Feinde gerettet hat. Todaro antwortet: “Wir haben das getan, weil wir Italiener sind”.
Das Thema “Was bedeutet es, Italiener zu sein?” wird von Michael Mann in seinem Film “Ferrari” weitergeführt. Laut dem amerikanischen Regisseur bedeutet es, dass man Autos und schöne Frauen liebt, Geschwindigkeit und Rennen. Italiener sind auch in der Lage, sich ihren Leidenschaften hinzugeben, selbst wenn sie ihnen das Leben kosten könnten. In der Hauptrolle des Rennfahrers, Konstrukteurs und Schöpfers der legendären Marke Ferrari sehen wir Adam Driver. Driver ist ja fast ein Italiener, vor allem nachdem er bereits die Gelegenheit hatte, im Film “House of Gucci” den Geschäftsmann Maurizio Gucci, den Enkel des Gründers der berühmten Modemarke, zu verkörpern. Dieses Mal verkörpert er eben eine Automobillegende. Trotz seines Nachnamens wurde Driver nicht ans Steuer teurer Autos gelassen. Sein Partner, Patrick Dempsey, der einen der Rennfahrer spielte, konnte sein Talent jedoch zeigen. Dempsey ist nicht nur Schauspieler, sondern auch professioneller Rennfahrer, Mitinhaber eines Motorsportteams und Partner der Marke Porsche.
Der Film „Ferrari“, basierend auf dem Bestseller von Brock W. Yates “Enzo Ferrari: The Man and the Machine”. Zum Glück versucht Michael Mann nicht, das gesamte Leben des legendären Konstrukteurs in die zwei (Film)Stunden zu quetschen. Er konzentriert sich nur auf die Ereignisse des Jahres 1957. Zu dieser Zeit hatte Ferrari Probleme im Geschäft, er brauchte Geld, und seine Firma brauchte einen Investor, da sie zu wenig Autos produzierte und Konkurrenz von Maserati bekam. In dieser schwierigen Phase geriet auch Enzo Ferraris persönliches Leben aus den Fugen. Er trennte sich von seiner Frau Laura (gespielt von Penélope Cruz), die auch Miteigentümerin des Geschäfts war, und kurz zuvor hatte er seinen geliebten Sohn verloren. “Ferrari” erzählt auch von der letzten Ausgabe des legendären Mille Miglia-Rennens, das 1957 nach 30 Jahren verboten wurde. Der Grund für das Verbot war ein Unfall des Ferrari-Fahrers Alfonso de Portago. Mann hat dieses schockierende Ereignis mit Hilfe von Spezialeffekten nachgestellt. Doch die Technologie milderte nicht den Schock dieses grausamen und blutigen Unfalls. Vielleicht wird der Zuschauer am Ende des Films verstehen, dass dieser Film nicht wirklich über Autos und Motorsport handelt, er handelt auch nicht über die berühmte Marke Ferrari, sondern über das psychologische Porträt eines Mannes, für den der Tod sein ständiger Lebensbegleiter wurde.