Überwachung, Vergewaltigung, Kriminalität, Zerstörung, diese Begriffe stammen meistens aus unabhängigen Filmproduktionen, gleich, ob diese aus Asien, Amerika oder Europa kommen. Doch unsere Geschichte handelt von Filmen aus China, die auf dem Filmfest München gezeigt wurden.
Ein Film fällt doch noch aus der Reihe dieser Filme – „Brotherhood of Blades II“ ( 绣春刀II修罗战场) von Lu Yang (路阳). Wir sehen China zur Zeit der Ming-Dynastie, einer Zeit der stolzen Leibwächter des Kaisers und der hinterhältigen Minister, von Adligen, die ein „Buch des Gewissens“ führen und ihrer Herzensdamen, die der noblen Kalligrafie und Malerei ihre Zeit widmeten. Beide Geschlechter beherrschen die Kunst der Martial-Arts gleich gut. Deshalb kommt es zu unendlichen, virtuosen und unterhaltsamen Kämpfen sowie Machtspielen, Kunst, Liebe und wir sehen schöne historische Mode, also die Dinge, für die manche so gerne ins Kino gehen und asiatische Filme mögen. Diese Filme haben aber für manchen Kunstkritiker, intellektuellen Zuschauer oder unabhängigen Regisseur eventuell einen negativen Beigeschmack, sind sie doch eher Kommerz und Mainstream-Kino zuzuordnen. Auch deshalb ist inzwischen eine neue Generation chinesischer Regisseure auf den internationalen Leinwänden zu sehen, die sich als unabhängige Filmemacher zum Arthouse bekennen. Vielleicht genießen sie keinen so großen Erfolg bei einheimischen Zuschauern, doch werden sie vom intellektuellen europäischen Publikum hochgeschätzt, wie die verliehenen Preise des Filmfestivals in Venedig und in Cannes bestätigen.
Diese Filmemacher sind in den 1970er-Jahren geboren, als in China nur sowjetische oder indische Filme als ausländische Produktionen die Leinwände beherrschten und als der Besitz eines Motorrads als das höchste Glück galt. So wurde der nun heute bekannte Regisseur Jia Zhang-Ke (賈樟柯 ) groß und so ist die Erinnerung an seine Jugend in China. Als die Grenzen sich plötzlich öffneten und die Chinesen reisen durften, hat Jia Zhang-Ke auch im Ausland seine Erfahrungen gemacht. Nach einiger Zeit stellte er allerdings fest, dass das Leben überall recht ähnlich und es am schönsten doch zu Hause ist. Deshalb handeln seine Filme über seine Heimat, seine moderne Heimat. Sie zeigen Kriminalität wie z.B. Diebstahl vor dem Hintergrund westlicher Popmusik. Auch in seinem jüngsten Film „Asche ist reines Weiß“ (江湖儿女) geht es um den lokalen Mafiaboss, der die chinesische Millionenstadt Datong regiert. Jia Zhang-Ke scherzt nach der Premiere in München, dass er als Jugendliche nur zwei ausländische Filme (einen aus Indien und anderen aus Italien) gesehen hat, die ihn sehr beeindruckten und großen Respekt vor Dieben schufen. Doch in seiner Geschichte geht es nicht direkt um den Dieb, sondern um die Diebesfrau, also die Freundin eines Diebes, die das Leben des Diebes rettet. Sie geht sogar für ihn ins Gefängnis, aber er hat nicht einmal den Mut, zu dieser Frau zu stehen. Seine Tapferkeit war nur ein arroganter Schein. Als die Freundin nach langer Zeit aus dem Gefängnis entlassen, erkennt sie seine Illoyalität und Schwäche. Und natürlich spielt im Film auch die Popmusik eine wichtige Rolle, weil ja Jia Zhang-Ke davon nicht genug in seiner Jugend gehört hat und das nun nachholen will.
Erstaunlich gut ist das Spielfilmdebüt von Dong Yue „The Looming Storm“ (暴雪将至) gelungen. Kein Wunder, denn der Regisseur des Filmes ist professioneller Kameramann und hat viel Erfahrung darin, wunderschöne visuelle Reihen auf die Leinwand zu bringen. Vielleicht wurde Dong Yue gerade dafür mit dem Asian Film Award 2018 als bester Nachwuchsregisseur ausgezeichnet. In diesem Werk muss er vom Film noir inspiriert worden sein, dafür braucht er nicht einmal die Story in schwarz-weiß zu zeigen. Es reicht schon eine Geschichte über eine fast verlassene Fabrik, in der vier Frauen auf gleiche Art und Weise ermordet wurden. Die Atmosphäre der Bilder wird aus einer Farbmischung von Braun und Grau geschaffen, was bereits kein Happyend verspricht. Der Täter ist nah, doch die Ermittlungen der Polizei bringen keine Ergebnisse. Deshalb beginnen der Hobbydetektiv Xiao Liu und sein Gehilfe eigene Ermittlungen an und kommen bald einem mysteriösen Mann auf die Spuren. Ganz nah am Ziel begehen sie dann allerdings einen unverzeihlichen Fehler, der zu tragischen Konsequenzen führt.
Genauso mysteriös geht es im Beitrag „From Where We’ve Fallen“ (王飞飞电影) von Feifei Wang zu. Komplexe Beziehungen, Sehnsüchte und Schicksale vermischen sich und beginnen mit einer Einleitung in der ein Mann zufällig den Todessturz seines Nachbarn beobachtet. Dabei bekennt Feifei Wang (王飞飞), dass er seine Geschichte nicht entworfen hat, sondern sozusagen direkt der Realität entnommen. 2008, als er mit seinem Drehbuch begonnen hat, beobachtete er mit Staunen, wie sich aus einer politisch geschlossenen traditionellen Gesellschaft eine neue entstand, ein Hybrid, der Konservatismus und Fortschritt, Konsum und Not miteinander verbindet. Plötzlich wurden seine ehemaligen Freunde märchenhaft reich, konnten aber nicht mit diesem plötzlichen Reichtum umgehen. Tatsächlich beobachtete er, wie ein Nachbar über 50, der seinen Sohn ins Ausland zum Studium schickte, aus dem Fenster sprang und er wurde Zeuge einer Affäre, die sein Freund, ein Dozent an der Uni, kurz vor seiner Hochzeit plötzlich mit seiner Studentin anfing und Feifei Wang um Rat fragte. Wie soll man mit solchen Neuerungen umgehen, wenn diese gegen alle traditionellen Werte Chinas verstoßen? Klassische Autoren der russischen Literatur gaben darauf die Antwort, ein Künstler solle Fragen stellen ohne Antworten zu geben und Feifei Wang entschied sich, ebenfalls dieser Strategie zu folgen, wenn auch auf sehr nostalgische Art und Weise.
„Dragonfly Eyes“ (蜻蜓之眼) von Xu Bing (徐冰) kann man schwer als Spielfilm bezeichnen, auch wenn darin eine Geschichte erzählt wird. Nicht umsonst wurde dies als Kunstprojekt auf der diesjährigen Kunstmesse Art Basel präsentiert. Xu Bing ist ja dem breiten Publikum eher als Künstler bekannt. Er sammelt Filmmaterial zusammen, das von Überwachungskameras stammt. 100 Millionen Überwachungskameras sind in China installiert. Diese nehmen fleißig Szenen des öffentlichen und des privaten Lebens auf, was ja hierzulande bereits politisch umstritten ist, da diese sogenannte Transparenz möglicherweise als Datenschutzverletzung zu verstehen ist. Autounfälle, Straßenkämpfe, Unwetter und ganz alltägliche Szenen sind meisterhaft miteinander kombiniert und unter einer einheitlichen Geschichte nach dem Motto „Boy meets Girl“ zusammen gebracht worden. Mit einem enormen Erfindungsreichtum gelingt dem Künstler, eine originelle Bildsprache des digitalen Zeitalters, die vielleicht demnächst eine neue Form des Spielfilms sein wird.
Ein anderer Künstler, der Maler Miaoyan Zhang (章淼焱) drehte seinen vierten Spielfilm „Silent Mist“ (沉雾), doch wirkt dieser ebenso wie ein künstlerisches Projekt. Die Story ist kurz und knapp: Sie handelt von Vergewaltigungen junger Frauen in einem chinesischen Dorf, wo die patriarchalischen Strukturen für Verheimlichung der wahren Täter sorgen. Doch leider sieht man auf der Leinwand so viel hoffnungslose Dunkelheit und Dämmerung, dass diese den Betrachter schnell in den Schlaf treiben. Die Dialoge fallen fast völlig aus, und so wirkt es, als ob auch dieses Projekt aus Material von Überwachungskameras stammt. Die Schweigsamkeit seines Werkes erklärt Miaoyan Zhang mit seiner Abneigung, ausländische Filme mit Untertiteln zu versehen. Er findet, dass unnötige Übersetzungen viel zu sehr vom Lesen der Bilder ablenken, deshalb will er den Inhalt seines Werkes dem ausländischen Zuschauer durch Stimmungen seiner Bilder näherbringen.
Die Handlung aller dieser Beiträge entwickelt sich nicht im politischen Zentrum Chinas Beijing oder der Hauptstadt der Finanzen und Metropole der Mode Shanghai, sondern irgendwo in der Provinz, wohl, um einen ungeschönten Eindruck des modernen Chinas zu hinterlassen. Die Schöpfer dieser Filme versuchen, sich klar von kommerziellen Produktionen zu distanzieren, Filme l’art pour l‘art zu drehen und einen Blick hinter die Kulissen Chinas zu verschaffen. Ob dieser Blick durch den ausländischen Zuschauer tatsächlich Interesse für Land und Leute weckt bleibt zu sehen.