Es war einmal ein 13-jähriges Mädchen, zierlich für sein Alter, hellhaarig und blauäugig, unschuldig, ekstatisch und schüchtern. Sie hieß Jenny und kam aus einer wohlhabenden Familie. Eines Tages schickten die Eltern ihre Tochter zum Reitunterricht, wo sie zwei – wie sie es dachte – besondere Menschen – die Reitlehrerin Mrs. G und den Trainer Bill – kennengelernt hat. Mrs G und Mr Bill haben ihr bald die Familie ersetzt, doch nicht ohne einen heimtückischen Plan zu verfolgen. Dem jungen Mädchen hat es eben an Lebenserfahrung gefehlt, den Plan und  dessen Umsetzung zu erkennen. Es landete im Bett mit einem 40-jährigen Mann und begann eine „Beziehung“ mit ihm.

“The Tale” Jennifer Fox ©Filmfest München

Erst 33 Jahre später erkennt die nun erwachsene Frau in ihrer Erinnerungen an die vermeintlich unbekümmerte Kindheit den Missbrauch und das Verbrechen. Viel zu spät, um noch lebende Täter zu bestrafen, doch noch rechtzeitig, um als reife Frau ihre Beziehung zu Männern, ihrer Sexualität und sich selbst zu überdenken.

Das Mädchen, bzw. die nun erwachsene Frau heißt Jennifer Fox (im Film auch Jenny). Sie erzählt eine Geschichte, die ihr tatsächlich in ihrer Jugend passierte. Die Dokumentarfilmerin und auch bekannte Produzentin (u.a. bei Section Eight und Universal Pictures), musste ihren ganzen Mut zusammennehmen, um ihre intimste Geschichte in „The Tale“ derart preiszugeben. Dafür versucht sie sich sogar zum ersten Mal im Spielfilmbereich. Vielleicht wurde sie von der MeToo-Bewegung motiviert, vielleicht war die Zeit einfach reif dafür. Schließlich hat Jennifer Fox bereits vor 18 Jahren „Erin Brokovich“ produziert, ein Film, der ja auch eine starke Frau zeigt.

Über die Gründe für eine derartige Entblößung können wir weiter rätseln, wichtig wäre dabei aber anzumerken, dass Frau Fox mit ihrem Film nicht nur sich selbst hilft, Ereignisse aus der Vergangenheit zu verarbeiten, sondern auch  Menschen in ähnlichen aktuellen Situationen. Letzteren eröffnet sich so die Möglichkeit, ihre Traumata  zu analysieren und, wenn möglich, zu verarbeiten.

„Jusqu’à La Garde“ Xavier Legrand © Filmfest München

In „Jusqu’à La Garde“ von Xavier Legrand geht es um das gleiche Thema: Missbrauch. Der Film ist kurz, knapp und tatsächlich genial, was bereits die Jurys und das Publikum von Festivals in Venedig, San Sebastián und Miami feststellten. Er handelt von einer Familie – Vater, Mutter und zwei Kindern – die sich trennen muss. Der Vater ist gewalttätig, er hat seine Frau, seine ältere Tochter und den jüngeren Sohn viel zu oft geschlagen. Doch in der Verhandlung erkennt die Richterin trotz der polizeilichen Meldungen, der Aussagen der Ehefrau und der Briefe der Kinder, die einem die Tränen in die Augen treiben nicht die Gefahr, die von ihm ausgeht. In ihrem Urteil entscheidet sie sich für das gemeinsame Sorgerecht beider Eltern.

Der Staat legitimiert damit das Maus-und-Katz-Spiel und Miriam, die Ehefrau, bleibt mit ihren beiden Kindern der Willkür und den  Stimmungsschwankungen ihres psychisch kranken Ehemanns ausgeliefert. Eine Frau – die Richterin – hat Miriam „verraten“, eine andere – die Nachbarin – hilft ihr. Wir sehen, dass die Frauenbewegung gegen Gewalt und Missbrauch immer noch nicht viel ausrichtet, doch leider versagt auch das staatliche Rechtssystem, welches die Schwachen nicht beschützt, sondern nur noch verletzlicher macht. Dieser Film wird viele Frauen ansprechen, wütend machen, weinen lassen. Doch nichts mehr kann den Kindern helfen, die mit Folgen falscher Entscheidungen aufgewachsen sind.

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