99813 Red Carpet Joker Folie Deux Actress Lady Gaga Credits G. Zucchiatti La Biennale Di Venezia Foto Asac 4

Seit etwa drei Wochen läuft „Joker: Folie à Deux“ in Kinos weltweit. Viele halten den Film für eine Schundprobe. Lassen wir uns herausfinden, warum.

Mit „Joker: Folie à Deux“ betreten die Filmemacher vertrautes Terrain, das vielen als typisches Hollywoodkino bekannt ist. Während der erste Film als riskant und innovativ wahrgenommen wurde, scheint die Fortsetzung nun in bewährte Muster zurückzufallen: eine misanthropische Anti-Comic-Geschichte, kombiniert mit der Mythologie des Superschurken und der Ästhetik sozialpsychologischer Thriller der 1970er-Jahre. Viele Filmkritiker fanden den ersten Film als einzigartig und unnachahmlich und rangen um dessen Einordung. Für die Fortsetzung entschieden sich die Filmemacher, einen hybriden Genre-Mix zu nutzen – eine Kombination aus Gefängnisdrama und Musical. Ein ähnlicher Ansatz wurde übrigens mit „Emilia Perez“ beim letzten Filmfestival in Cannes präsentiert, jedoch ohne den übertriebenen Hollywood-Pomp.

Joker: Folie À Deux

Joacquin Phoenix und Lady Gaga, Credits: Niko Tavernise / 2024 Warner Bros.

Die Eröffnung des Films ist originell: Sie beginnt mit dem animierten Kurzfilm „Ich und mein Schatten“, der die Geschichte und das Schicksal von Joker zusammenfasst. Im Stil der klassischen Warner Brothers-Cartoons gehalten, mit blutigem Humor und einer karikaturhafter Ästhetik, wurde die Einführungsgeschichte allerdings nicht von Todd Phillips, dem Regisseur von „Joker“, sondern von dem französischen Animator Sylvain Chomet („Das große Rennen von Belleville“, „Der Illusionist“) erstellt.

Vor der Filmpremiere kündigten der Regisseur Todd Phillips und Ko-Autor Scott Silver des Films an, „Joker 2“ sei der Liebe gewidmet. Doch der Protagonist Arthur Fleck alias Joker ist mit solchen Emotionen nicht vertraut, und die im zweiten Teil neu eingeführte Lee entpuppt sich später als bloße Fälschung. Die Beziehung der beiden durchläuft allerdings einige übliche Phasen: Sie küssen sich, singen ein Duett, tanzen, simulieren Sex und versuchen, aus der Anstalt zu entkommen – doch all dies zerfällt in eine Reihe von theatralischen und musikalischen Fantasien. Auch im Vorfeld sagten die Filmschöpfer, dass „in ihrem Protagonisten die Musik wohnt“ und dass es für sie entscheidend war, in der Fortsetzung einen musikalischen Rahmen zu schaffen. An Bord kam die Oscar-prämierte Komponistin Hildur Guðnadóttir, die sogar extra fürs Projekt ein „Graben-Cello“ bestellte, das an die in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs verwendeten Instrumente erinnert, um die Klaustrophobie von Arkham Asylum zu betonen. Leider sind diese Melodien nicht besonders einprägsam geworden, und die Nuancen bleiben für das ungeschulte Ohr der meisten Zuschauer verborgen.

Um die tristen Bilder des Alltags in einer psychiatrischen Anstalt und die Gerichtsverfahren aufzulockern, entschieden sich die Macher zusätzlich, auf Popmusik zu setzen: populäre Arrangements amerikanischer Hits, die nur kurz im Gedächtnis bleiben. Man versuchte, aus einem nicht gerade musikaffinen Joaquin Phoenix einen Sänger zu machen, was nicht unbedingt gelungen ist, auch wenn Superstar Lady Gaga ihm zur Seite steht. Es ist zudem merkwürdig, dass der Film, der teilweise als Musical funktionieren soll und Lady Gaga als Hauptdarstellerin hat, keine bedeutenden musikalischen Auftritte dieser Sängerin zeigt. Ihre Figur bleibt die ganze Zeit im Hintergrund, während sich die Geschichte erneut dem Rätsel um die wahre Natur des Jokers und der Suche nach den Gründen für die Entstehung seines Alter Egos widmet. Die schweren Entscheidungen der Autoren lasten erneut auf den überforderten Schultern von Joaquin Phoenix, der sich für die Rolle absichtlich abgemagert hat und die gesamte Filmhandlung auf sich trägt.

99353 Photocall Joker Folie Deux Film Delegation Credits G. Zucchiatti La Biennale Di Venezia Foto Asac 6
Premiere von “Joker” in Venice mit Lady Gaga, Todd Phillips und Joaquin Phoenix,
Credits: G. Zucchiatti / La Biennale Di Venezia

Trotz all dem gibt es in diesem Projekt etwas, was uns gefallen hat und was uns dazu brachte, wiederholt über eine wichtige Frage nachzudenken: Ist diese gesichtslose Erzählung nicht bloß ein Spiegelbild unserer modernen Gesellschaft? Wir leben in einer Zeit, die von Ereignissen geprägt ist, die in Wahrheit keine Ereignisse sind. Menschen sind beschäftigt, um bloß beschäftigt zu sein; soziale Netzwerke pulsieren vor Aktivität, doch hinter dieser Fassade verbirgt sich ein völliges Fehlen tiefer Interaktionen. Wir kommunizieren, schaffen aber keine echten Verbindungen. Niemand kennt den anderen wirklich — nur Nicks und Pseudonyme, Masken auf gesichtslosen Gesichtern. Das Zeitalter der Transparenz hat sich in einen Abgrund voller Rätsel verwandelt, in dem die Originalität der Charaktere lediglich eine flüchtige Illusion ist.

Der Joker ist ein Protagonist unserer Zeit, ein Held der Massen, dem Schicksal überlassen. Seine Individualität interessiert die Gesellschaft nur so lange, wie er in ihre Erwartungen passt. Vielleicht hegt er naive Hoffnungen auf die Bedeutung seiner Person, doch in Wirklichkeit ist er ein Symbol seiner eigenen Illusionen und Irrtümer. Solange seine Taten bei den Massen, die nach Anarchie und Zerstörung verlangen, Anklang finden, wird er auf ein Podest gehoben. Will er nicht mehr als ein Werkzeug in den Händen anderer sein, verkörpert seine Figur die paradoxe Wahrheit, dass Individualität, sobald sie unerwünscht wird, beseitigt werden muss. 

98042 Joker Folie Deux Joacquin Phoenix And Lady Gaga Credits Niko Tavernise 2024 Warner Bros. Entertainment Inc 2
Joacquin Phoenix und Lady Gaga im Film, Credits: Niko Tavernise / 2024 Warner Bros.

Was die Protagonistin von Lady Gaga betrifft, die nach Popularität und der Befriedigung ihrer Bedürfnisse strebt, so macht sie keine Versuche, den Mann zu verstehen, der vor ihr steht. Sie sieht ihren Partner als leere Leinwand, die es mit ihren Erwartungen nach dem Motto „Brauchst du den perfekten Mann – erschaffe ihn selbst“ zu füllen gilt. Ist dies nicht ein Spiegelbild zeitgenössischer Werte? Wir beobachten einen präzisen Übergang zu einer Gesellschaft, in der Individualität verloren geht und Menschen zu programmierten Roboten werden. Und ist die Anspielung auf „Folie“ nicht ein Hinweis auf einen echten Wahnsinn, wenn Werte, die über Generationen hinweg geschaffen wurden, im Handumdrehen entwertet werden, während das Leben, betrachtet man seine Essenz, jeglichen Sinn verliert?

×