Das 34. Filmfest München zeigt vier japanische Produktionen. So unterschiedlich wie sie sein mögen, vereinen sie die Poesie des fernöstlichen Landes und zeigen eine Realität, die sich manchmal kaum von einer Fantasie unterscheidet.
Wer kennt nicht die Werke aus dem berühmten Ghibli-Studio wie „Prinzessin Mononoke“ oder „Das wandelnde Schloss“ und vor allem „Ponyo – Das große Abenteuer am Meer“ des Filmautoren Hayao Miyasaki? Deshalb wundert man sich kaum, wenn auch das Filmfest in München einen der meist erfolgreichen japanischen Trickfilme des letzten Jahres im diesjährigen Programm zeigt. Und das nicht nur für Kinder in der entsprechenden Sektion, sondern auch für Erwachsene in der Reihe „Spotlight“.
„Der Junge und das Biest“, die jüngste Produktion von Mamoru Hosoda, der für die Regie des Kultfilmes „Das wandelnde Schloss“ in Frage kam, dann aber doch zwei andere erfolgreiche Produktionen wie „Das Mädchen, das durch die Zeit sprang“ (2006) und „Summer Wars“ (2009) in die japanischen Kinos brachte, lief bereits letztes Jahr auf dem Filmfestival in Toronto. In Japan bekam sie den höchsten Preis der nationalen Filmakademie und wurde als Manga adaptiert.
Die Geschichte erzählt von einem verwaisten Jungen, der sich weigert, sich nach dem Tod seiner Mutter von einer Familie adoptieren zu lassen. Er landet in Shibuya, einem Stadtteil von Tokyo, und wird dort von einem Biest aufgefunden. Das Biest, das den Namen Kumatetsu trägt, bringt seine Menschenbeute ins Biestland und macht den Jungen zu seinem Schüler. Der Kleine wächst zu einem kräftigen jungen Mann heran, einem ausgezeichneter Kento-Kämpfer. Aus dem bis dahin faulen Biest wird ein verantwortlicher Lehrer. Zum Schluss wird er sogar zum Herrscher des Biestlandes gekrönt. Natürlich geschieht das nicht ohne Abenteuer. Wie immer schickt uns die ordnungsliebende japanische Gesellschaft eine klare Botschaft, dass Disziplin und harte Arbeit die einzigen Wege zum wahren Erfolg sind. Der Plot ist bezaubernd, genauso seine visuelle Darstellung – eine schrille Farbmischung mit fantasievollen Gestalten.
Im Westen ist das japanische Kino bisher für solche Produktionen und vielleicht noch für Samurai-Filme bekannt. Dass diese drei japanischen Filme in der Reihe „International Independents“ auf dem Filmfest in München laufen, war eine Überraschung, aber zugleich auch ein Geschenk für den interessierten Zuschauer.
Der Film „The Shell Collector“ des Regisseurs Yoshifumi Tsubota, der bei der Münchner Premiere anwesend war, erzählt die Geschichte eines introvertierten blinden Professors, der sich auf einer Insel mit dem Sammeln von Muscheln beschäftigt. Eines Tages findet er an der Küste den Körper einer Frau. Sie scheint zunächst tot, erwacht jedoch durch seine Pflege. Die Frau, eine ehemalige Künstlerin, erzählt, wie es dazu kam, dass ihre Hand gelähmt blieb, woraufhin sie ihre Fähigkeit zum Malen ebenso wie ihren Lebenswillen verlor. Durch einen Zufall wird sie von einer giftigen Schnecke gebissen, die der Professor ins Haus gebracht hat. Plötzlich kann sie wieder malen, verlässt die Insel und verbreitet die Geschichte über die heilende Wundermuschel. Das ruhige und einsame Leben des blinden Wissenschaftlers ist somit beendet.
Ein Star der japanischen Independent-Szene – Lily Franky – übernimmt die Rolle des Professors. Ebenfalls verleiht er seine Stimme einer Figur im Trickfilm „Der Junge und das Biest“. In den letzten 15 Jahren hat der 52-jährige Schauspieler in mehr als 40 Filmproduktionen mitgewirkt.
Ein anderer bekannter japanischer Künstler – der Kameramann Akiko Ashizawa bereichert das Werk mit ungewöhnlichen visuellen Perspektiven, poetischen Ansichten und meditativer Stimmung in der sich die Grenzen zwischen Realität und Fantasie verwischen.
Die langsame Erzählung gibt das Tempo der japanischen Produktion „West North West“ von Takuro Nakamura vor, die in einem Review von „Variety“ als „eine lesbische Dreieck-Geschichte“ bezeichnet wurde. Für mich geht es hier weniger um eine lesbische Liebe oder eine Liebe schlechthin, sondern darum, wie schwer es Fremde haben, bei dem Versuch, sich in die japanische Gesellschaft zu integrieren.
Die Story fängt damit an, wie lokale Beamten eine iranische Studentin bei Verlängerung ihres Visums unfair behandeln. Naima kommt nach Japan, um Malerei zu studieren, was ihr auch sehr gut gelingt, genauso gut wie sie die schwierige Fremdsprache beherrscht. So gesehen ist sie fast selbst zu einer Japanerin geworden mit ihrer für eine Iranerin nicht üblichen zurückgezogenen und reservierten Art, mit ihrer leisen Stimme und ihrem niedergeschlagenen Blick. Doch Freunde hat sie unter den Einheimischen nicht gewonnen, genauso wenig wie einen Arbeitsvertrag, den sie dringend sucht. Nur eine einzige Einheimische, eine Bar-Angestellte namens Kei hält zu ihr, weil sie selbst auch nicht nach den Regeln dieser Gesellschaft lebt. Trotz aller gemeinsamen Mühe endet jedoch Naimas Aufenthalt im ersehnten Land. Die japanische Gesellschaft schottet sich seit Jahrhunderten gegen Fremde ab und tut es auch heute noch.
Wer sich die Mühe macht, die längste Filmproduktion des Filmfestes München „Happy Hour“ von Ryusuke Hamaguchi anzusehen, wird dafür reichlich belohnt. Die fünfstündige Saga berichtet über vier Freundinnen, die ihren eingefahrenen Alltag überdenken.
Die Story findet in einer südlichen Region Japans statt, der berühmten Stadt Kobe mit ihrer reichen Club- und Jazz-Kultur sowie dem Kurgebiet Arima. 1995 wurde die Gegend fast komplett durch ein starkes Erdbeben zerstört. Zwanzig Jahre später sehen wir auf der Leinwand die fast neu errichtete Stadt mit ihrem Hafen, blauer Meeresküste und grünen Gipfeln der Rokko-Berge. Das Schicksal der vier Frauen kann nicht unterschiedlicher sein, doch zum Schluss scheinen sie alle mit gleichen Problemen zu kämpfen: für ihre Anerkennung und ein Recht, eigene Gefühle äußern zu können. Akari ist eine geschiedene und viel beschäftigte Krankenschwester, die auf eine neue Liebe hofft. Sakurako ist Hausfrau, Mutter eines Teenagers, die ihren berufstätigen Mann kaum sieht, und deshalb durch die Zeit mit ihren Freundinnen einen Ausweg aus ihrem monotonen Leben sucht. Fumi arbeitet im Kommunikationsbereich und hat einen Ehemann, der als Buchredakteur tätig ist. Leider beschäftigt sich ihr Mann mehr mit seiner jungen Autorin als mit der Ehefrau. Und schließlich gibt es noch Jun, die als erste aus ihrem Alltag ausreißt, eine Liebesaffäre sucht und nach einem gescheiterten Versuch, sich von ihrem Ehemann zu trennen, flieht.
Am Anfang des Filmes erleben wir noch alle vier Damen bei der „Happy Hour“ als sie ihre Kurzreise zum berühmten Arima-Onsen genießen. Die Geschichte macht einen melancholisch, nachdenklich, zeigt auch, dass die Japaner durchaus fähig sind, ihre Gefühle offen zu zeigen, aber auch, dass solche Geschichten wie die US-Erfolgsserie „Sex and the City“, die ja ebenfalls vom Liebesleben von vier Freundinnen handelt, in der japanischen Realität kaum Platz finden.