Als letztes Jahr beim Filmfestival in Venedig der Dokumentarfilm SACRO GRA über GRA – die Autobahn um Rom – den goldenen Löwen gewann, sprach man von einer Überraschung und Sensation. Warum sollte ausgesprochen ein Meister des Narrativen, Bernardo Bertolucci, der die Jury in Venedig leitete, sich für eine Dokumentation entscheiden? Weil die Regielegende Federico Fellini dieselbe Autobahn in seinem Film „Fellinis Roma“ verewigte? Weil der Dokumentarregisseur Gianfranco Rosi – Autor von SACRO GRA – zwei Jahre lang mit seinem Van um Rom herum fuhr und seinen Film drehte? Oder – und für mich ist das am ehesten nachvollziehbar – weil die Italiener mit großem Enthusiasmus Dokumentarfilme mögen, genauso wie ich mit gleicher Begeisterung Spielfilme mag.
In SACRO GRA geht es um die Autobahn A90, die einen großen Ring um Rom. Entlang des Rings leben verschiedenste Menschen: alte Prostituierte, die in einem Campingwagen leben, Aal-Fischer, die am Tiber angeln, Gartenpfleger, die Palmen versorgen, Einwohner der Hochhäuser, die tageslang nichts anderes zu tun haben, als die Nachbarn zu beobachten und darüber zu sprechen. Und entlang des Weges sind natürlich viele Rettungswagen mit Fahrern zu sehen, die versuchen, diesen verlorenen Seelen am Rande der Gesellschaft zu retten. Erstaunlicherweise gibt es in diesem Dokumentarfilm gar keinen Plan und auch keine Interviews oder Dialoge, nur kurze Episoden, die einen oder anderen Protagonisten ins Visier der Kamera ziehen.
Ein anderes Road-Movie im Dokumentarstil ist TIR. Darin geht es um Truckfahrer.
Es sind immer ein bis zwei beim Fahren und im Gespräch mit ihren Familien zu sehen. Aus chaotischen Dialogen erfahren wir, dass der Slowene Branko als Lehrer in Bosnien arbeitete, dafür aber kaum Geld bekam und nun für eine italienische Firma – fern der Heimat, weit weg von seiner Familie – Europa durchqueren muss. Der Hauptdarsteller hat in der Tat fast 30000 km zurückgelegt ohne zu verraten, dass er ein Schauspieler ist. Aus dem Film ist allerdings nicht mehr als eine Dokumentation geworden, eigentlich nur zu empfehlen, wenn man Dokumentationen mag oder sich für das schwere Schicksal der LKW-Fahrer interessiert.
Die 32jährige Italienerin Alice Rohrwacher drehte ihren zweiten Spielfilm LE MERAVIGLIE. Nun wurde der Film mehrmals mit verschiedenen Preisen (inklusive Grand-Prix in Cannes) gekrönt und seine Autorin als junge Nachwuchsregisseurin sehr gelobt. Der Film – über eine von Gott und Menschen vergessene Familie in der Toskana, die Honig produziert – hat etwas Spannung und seine Regisseuren durchaus Potenzial, aber auch diese deutsch-italienisch-schweizerische Produktion hat einen dokumentarischen Charakter, der die zweistündige Handlung, gedreht mit nervöser Kamera, etwas langatmig macht.
Auch wenn man italienische Stars, wie Monica Bellucci in der Rolle einer TV-Moderatorin engagiert oder versucht Fellini-mäßig originell zu sein, indem man plötzlich ein Kamel in die Handlung einführt, bringen diese Entscheidungen keine Spannung in die Gesamthandlung.
Meine Favoriten unter italienischen Produktionen sind ANNI FELICI (Those Happy Years) von Daniele Luchetti und Il CAPITALE UMANO (Human Capital) von Paolo Virzì.
Im ersten Film – mit Kim Rossi Stuart, Micaela Ramazzotti und Martina Gedeck – geht es um einen erfolglosen Bildhauer, Guido, der mit seiner Frau und zwei Söhnen Anfang der 1970erjahre in Rom wohnt und versucht, etwas bedeutungsvolles künstlerisches zu erschaffen. Ihm gelingt es aber nur, belanglose Happenings zu gestalten und seine Frau ständig zu betrügen. Die Frau – eine typische Italienerin aus dieser Zeit – lebt durch Sorgen und Freuden ihres Gatten – bis sie eines Tages die Nase voll hat, die Einladung einer lesbischen Freundin annimmt, in Frankreich Urlaub zu machen und eine Beziehung mit der dieser anfängt. Frisch, farbintensiv, originell und unterhaltsam. Global geht es außerdem darum, wie frei wie als Menschen in unserem Leben und mit unseren Entscheidungen sind auch wenn wir lieben, gemeinsam leben und Familien haben.
In der freien Verfilmung von Stephen Amidons Romans „Human Capital“ geht es um die einflussreiche Familie Bernaschi in Mailand und andere kleine Menschen, die nah und fern der Familie stehen. Aber auch darum, dass man für Reichtum einen hohen Preis zahlt, , wenn man Familienmitglieder vernachlässigt. Aber letztendlich spielt das alles keine Rolle, denn nur „Geld macht einen ehrlichen Mann“. Und auch einen, dem man mit Respekt und Anerkennung begegnet und dessen Nähe man anstrebt.