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120 Filme aus 52 Ländern sind im Programm des diesjährigen Filmfests München angekündigt. Davon feiern 35 Produktionen ihre Weltpremiere. Vor allem sind zahlreiche Produktionen, die bei den diesjährigen Filmfestspielen von Cannes für Aufsehen sorgten, in der bayerischen Landeshauptstadt zwischen dem 24. Juni und 2. Juli zu sehen.

17 Arte Koproduktionen Beim 39. Filmfest München
Vicky Krieps als Kaiserin Elisabeth in “Corsage” von M. Kreutzer © Filmfest München 2022

Am 23. Juni wurde das Filmfest mit dem Film „Corsage“ der österreichischen Filmregisseurin Marie Kreutzer eröffnet. Die Schauspielerin aus Luxemburg, Vicky Krieps, spielt darin die Kaiserin Elisabeth von Österreich-Ungarn. Für ihre schauspielerische Leistung wurde sie im Cannes-Programm „Un Certain Regard“ als beste Darstellerin ausgezeichnet. Die österreichische Kaiserin –eine äußerst beliebte Figur im Kino – wurde bereits unzählige Male auf der großen Leinwand verkörpert. Welchen Beitrag hat Kreutzer zu dieser Geschichte geleistet? Zunächst einmal wird die Kaiserin nicht als junge Sissi, Prinzessin von Bayern und auch nicht beim Aufbau ihres glänzenden politischen Images dargestellt, sondern als eine vierzigjährige, etwas ermüdete und bereits verblassende Frau, die sich um ihre Kinder zu kümmern versucht. Sie ist gezwungen, ihr Korsett enger schnüren zu lassen, um ein wenig attraktiver für ihren Mann, Kaiser Franz Joseph von Österreich, zu sein. Wir sehen eine an Hilflosigkeit erstickende Frau, deren Leben durch die Konventionen der damaligen Gesellschaft extrem beschränkt wird. In gewisser Weise ist dieses Projekt feministisch, wenn auch ohne besondere Radikalität.

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Koreaner Song Kang-ho in “Broker” von H. Koreeda © Filmfest München 2022

Ein weiteres unbestrittenes Meisterwerk des Cannes Filmfestivals, das das Publikum in München begeisterte, war der erste koreanische Film des japanischen Regisseurs Hirokazu Koreeda „Broker“. Der Japaner scheint sein ganzes Leben lang ein- und denselben Film zu drehen, in dem er versucht, die Institution Familie aus verschiedenen Perspektiven zu zeigen. Die Mitglieder seiner Familien sind oft Ausgestoßene, die nicht durch Verwandtschaft verbunden sind, sondern sich freiwillig zu einer Ersatzgemeinschaft zusammenschließen. Im Film geht es um ein illegales Geschäft: den Schwarzmarktverkauf von Babys, um die bürokratischen und finanziellen Probleme einer legalen Adoption zu umgehen. Die Handlung beginnt mit einer jungen Frau, So-young (Lee Ji-eun), die ihr Baby in einer sogenannten „Babykiste“ einer Kirche in Busan zurücklässt. Das Baby kommt in die Hände des verschuldeten Textilreinigers Sang-hyun (Song Kang-ho) und seines jüngeren Partners Dong-soo (Gang Dong-wan), der selbst einmal Waisenkind war. Ihr Handeln ist illegal, aber nicht ohne gewissen Altruismus. Schließlich wünschen sich diese beiden eine erfolgreiche Adoption für das Kind. Obwohl ihnen die Beamten der Behörden bereits auf die Spur gekommen sind und man bereits fühlt, dass es bei der Auflösung keine Gewinner geben wird, folgt man der Filmhandlung gespannt weiter, vielleicht wegen der Kulturexotik des Inhalts oder wegen ungewöhnlichen Ansichten der Protagonisten. Der südkoreanische Schauspieler Song Kang-ho gewann in Cannes den Schauspielerpreis für die beste Darstellung.

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“Leila’s Brothers” von Saeed Roustayi © Filmfest München 2022

„Leila’s Brothers“ ist ein wirklich brillanter Film des Iraners Saeed Roustayi. Die Protagonistin wurde von Taraneh Alidoosti gespielt, die für ihre Rollen in den Filmen von Asghar Farhadi bekannt ist. Ihre Leila lebt bei ihren betagten Eltern, leidet regelmäßig unter Rückenschmerzen, verursacht durch Stress und Überarbeitung, und ist eigentlich die einzige Festangestellte, die die ganze Familie samt ihren vier Brüdern im Alleingang ernährt. Ihr Bruder Parviz (Farhad Aslani) setze Kinder in die Welt, kann die Familie aber nicht mit dem Gehalt einer Reinigungskraft von Toiletten in einem Einkaufszentrum ernähren. Farhad (Mohammad Ali Mohammadi) beschäftigt sich nur mit seinen Muskeln und amerikanischem Wrestling im Fernsehen. Manouchehr (Payman Maadi) macht von Zeit zu Zeit Pläne, schnell reich zu werden. Und Alireza (Navid Mohammadzadeh) hat die Fabrik verlassen und kann wegen seiner Arbeitslosigkeit seine Handlungsunfähigkeit und sein Überlebensrisiko nicht überwinden. An der Spitze all dieser nutzlosen, parasitäre lebenden Männer steht der alternde Vater Esmail (Saeed Poursamimi) – ein weinerlicher, selbstmitleidiger Intrigant, opiumsüchtig und besessen von dem Wunsch, der „Patriarch“ seines erweiterten Clans zu werden. Als Leila sich einen Plan ausdenkt, wie sie für das Familieneinkommen sorgen soll, findet sie keine Unterstützung. Sie lebt in einer Welt von Schurkenmännern, die ihren Status und ihr Prestige genießen, aber ausschließlich durch die Arbeit von Frauen leben, diesen aber mit Frauenfeindlichkeit und Herablassung begegenen. Der Film hat etwas von den epischen Filmklassikern wie „Der Pate“ von Francis Ford Coppola, aber mit klaren Elementen der orientalischen Kultur.

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“Tschaikowsky’s Wife” von Kirill Serebrennikov © Filmfest München

Ähnlich wie Cannes hat das Filmfest München über die Teilnahme russischer und ukrainischer Filmemacher entschieden, bloß mit dem Unterschied, dass der Russe Kirill Serebrennikov zwei seine Filme in Münchner Programm zeigen durfte. Das Festival hat ebenfalls zwei andere Teilnehmer – das russische Regieduett Natascha Merkulowa und Alexej Tschupow – nach München mit dem Film „Captain Volkonogov Escaped“ eingeladen. Aus der Ukraine waren der Regisseur Maksym Nakonechnyi mit „Butterfly Vision“ vor Ort sowie das Werk des verstorbenen litauischen Regisseurs Mantas Kvedaravičius „Mariupolis 2“. In seinem sparsam-minimalistischen und düsteren Werk untersucht Nakonechnyi die komplexe und widersprüchliche Situation in der Ukraine zu Beginn der Verschärfung des Konflikts im Donbass. Die Handlung dreht sich um Lilia (Rita Burkovskaya) mit dem Spitznamen „Butterfly“, die für die ukrainische Luftaufklärung im Donbass arbeitet. Dort wird sie gefangengenommen und bei einem Gefangenenaustausch nach Hause zurückgebracht. Im Laufe der Handlung erfährt der Zuschauer, dass Lilia in Gefangenschaft vergewaltigt wurde und nun schwanger ist. Trotz aller Grausamkeit ihres Lebens, einschließlich eines rassistischen Ehemanns, verliert die Heldin nicht ihre Menschlichkeit und lässt ihre Trauer und Wut nicht an anderen aus, vor allem nicht an ihrem noch ungeborenen Kind.

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“Butterfly Vision” von Maksym Nakonechnyi © Filmfest München 2022

Obwohl der Name „Tschaikowsky“ im Titel von Serebrennikows Werk die meiste Aufmerksamkeit erregt, handelt sein Film nicht von dem Komponisten, sondern von einer gewissen Antonina Milyukova. Diese Dame nutzte die kurzfristige Schwäche des berühmten Maestros aus, heiratete ihn und ließ sich bis zu seinem Lebensende nicht von ihr scheiden, obwohl es zwischen den Eheleuten keine andere Verbindung als Hass einerseits und wachsende Besessenheit andererseits gab. Die Filme von Serebrennikow erwecken eher das Gefühl einer Theaterinszenierung als eines Werks für die große Leinwand. Und höchstwahrscheinlich gelingt ihm ersteres auch viel besser als letzteres, was den Mangel an Filmpreisen in seinem Repertoire erklärt. Seine Werke – verbunden mit Gestalten der modernen russischen Gesellschaft – haben stets etwas Chaotisches, Düsteres, etwas von Dostojewskis „Dämonen“. Es scheint, dass der Regisseur nur damit beschäftigt ist, die einmal anerkannten Werte der russischen Klassiker in Frage zu stellen oder diese zu revidieren. Tatsächlich ist seine Position seine eigene Angelegenheit, sie kann akzeptiert werden oder nicht. Angesichts der Stärke Tschaikowskys in seinen Werken ist sein persönliches Leben bei der Bewertung seines Beitrags in die Weltmusik von untergeordneter Bedeutung. Es ist interessant, dass in Serebrennikows Werk kein einziges der brillanten Werke des Komponisten zu hören ist. Der Film ist der Ehefrau gewidmet. Dennoch muss man anprangern, dass das von Serebrennikow geschaffene Bild der Frau nur eine schwachsinnige und geistig labile Gestalt wiedergibt und deshalb  die Widmung des Filmes vielleicht keinen Sinn hat. 

Die Veranstalter des 39. Filmfests haben nicht nur Cannes-Premieren nach München gebracht, sondern sie auch alle ausgezeichnet. „Broker“ erhielt den ARRI Award für den besten internationalen Film, „Leila’s Brothers“ eine lobende Erwähnung. Die zwei anderen hier nicht erwähnten Highlights aus Cannes – „Aftersun“ und „War Pony“ – bekamen jeweils den CineVision Award für den besten internationalen Nachwuchsfilm sowie ebenfalls eine lobende Erwähnung. 

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