In der Tat ist das Münchner Filmfest ein Publikumsfest. Ein Fest für Kinoliebhaber, die nicht die Chance haben, die Kino-Highlights auf den internationalen Filmfestivals anzusehen. Häufig sind die Higlights der Filmfestspiele in Cannes und Venedig kleine internationale Filmproduktionen, die nur für wenig Aufmerksamkeit sorgen.
So wurde beispielsweise Matteo Garrones „Das Märchen der Märchen“ in Cannes für seinen Mainstream-Charakter kritisiert. Beim Münchner Filmfest wurde das Werk mit seinen schönen Bildinszenierungen und prominenter Besetzung durch Salma Hayek, Vincent Cassel und John C. Reilly ausgezeichnet aufgenommen. Gleiches trifft zu auf den Eröffnungsfilm „Loin des Hommes“ von David Oelhoffen, der fast vor einem Jahr auf dem Filmfestival in Venedig lief. Ein spannendes Beispiel, wie es gelingt, aus der Kurzgeschichte „Der Gast“ von Albert Camus einen ganzen Spielfilm in Länge von 102 Minuten zu drehen. Viggo Mortensen und Reda Kateb spielen zwei Fremde, einen Franzosen und einen Araber, die sich zufällig begegnen und um zu Überleben gemeinsam durch die karge Landschaften Algeriens ziehen, während im Land der Krieg gegen der französischen Kolonialherren herrscht.
Auch der Film „99 Homes“ – eine kleine Produktion, die es sich auf dem Filmfestival in Venedig nicht leisten konnte, die Pressearbeit zu organisieren – sah man in München mit anderen Augen. Spannend waren allerdings nur die ersten 40 Minuten, besonders die Szene, die zeigt, wie ein durchschnittlicher Amerikaner aus seinem Haus geworfen wird, ohne dass gierige Banker oder Immobilienmanager nur einen Funken Mitleid zeigen. Einer der Betroffenen schafft es, nah an den Betrüger zu kommen und als sein Partner viel Geld zu verdienen. Doch dieser Film wiederholt nicht die historischen Zeiten von „The New Hollywood“. Damals in den 1970ern wurden Kinoinhalte neu definiert, hier nicht. Und so degradiert sich der Film zu einer „Cinderella-Story“, bei der die Bösen verlieren müssen und die Guten ihr Recht finden.
New York Therapy
Zu einer der besten Sommerkomödien gehört „Broadway Therapy“ vom legendären Peter Bogdanovich. Owen Wilson spielt darin einen Broadway-Theaterregisseur, der die Schwäche hat, einen rettenden Helden unter lokalen Call-Girls zu spielen. Bei jeder neuen Begegnung bemüht er sich, seiner Liebhaberin so viel Geld zu schenken, dass sie mit der Prostitution aufhören kann und ihre Träume lebt. Eines Tages trifft er Izzy, die Schauspielerin sein will und letztendlich wird sein eigenes Familienleben aufs Spiel gesetzt.
Wer die Filme über New Yorker Neurotiker mag, wird auch „Listen up Philip“ von Alex Ross Perry mögen. Allerdings ist dieser Film im Vergleich zu Woody Allens Klassikern eher eintönig und nach einer halben Stunde hat man keine Lust mehr, den ewig mit seiner Seele ringenden Jason Schwarzman alias Philip zu sehen.
Frisch und witzig ist eine andere Geschichte, gedreht von der Spanierin Isabel Coixet – „Learning to Drive“. Eine Literaturkritikerin, die von ihrem Ehemann verlassen wird, muss nun selbst ihr Auto fahren lernen, ein Sikh, der ihr Fahrstunden gibt, bestellt sich seine Ehefrau aus seiner Heimat und viele andere kleine Geschichten, die Trennungen, Begegnungen und Lebensveränderungen in einer Großstadt wie New York auf witzige Art und Weise zeigen.
Asien zu Besuch
Bei einem Filmfest wie München es ist gerade spannend, ‚exotische‘ Filme zu entdecken, die man sonst nirgendwo sieht. Wenn auch hier sich das gleiche Spiel wiederholt. „En certain Regard“ in Cannes zeigte zwei Beiträge aus Indien: „Masaan“ von Neeraj Ghaywan und „Fourth Direction“ von Chauthi Koot. In „Masaan“ ging es über Leben und Sitten von der im Kastensystem lebenden Bevölkerung der heiligen Hindu-Stadt Varanasi. Die Arbeit von Koot ist eine langatmige Geschichte eines Konfliktes zwischen Hindus und Sikhs im Punjab, beziehungsweise wie diese ein Farmerhaus und einer Bauernfamilie betraf. Der erste Film gewann einen Preis in Cannes, den zweiten brachte man nach München. Im Münchner Programm gab es auch Filmproduktionen, die mit „Masaan“ mithalten konnten. In „Arunoday“ (Sunrise) erzählt Partho Sen-Gupta über die ebenso spannenden wie gefährlichen Metropole Mumbai, wo die Entführung von kleinen Mädchen und Kinderprostitution zum Alltag gehören. In einem anderen Film von Aditya Vikram Sengupta „Asha Jaoar Majhe“ (Labour of Love) trifft ein junges Ehepaar sich nur einmal täglich morgens früh, weil beide in verschiedenen Schichten arbeiten müssen. Der Film zeigt weniger die Beziehung des Paares, sondern ist eine lyrische dialoglose Ballade, die liebevoll die banalen Aktivitäten des Alltags – Einkaufen, Aufräumen, Schlafen – beobachtet und aufwertet.
Im „Kishibe No Tabi“ (Journey to the Shore) zeigt der Japaner Kiyoshi Kurosawa die surrealistische Reise einer Frau und ihres verstorbenen Ehemannes, der sie aus dem Jenseits besucht, um ihr Geheimnisse seines vergangenen Lebens zu offenbaren. Der Film ist mit 128 Minuten etwas zu lang. Aber in seiner Idee lässt den Zuschauer die Frage nicht los, ob unserer Welt tatsächlich von jenseitigen Kräften bestimmt werden kann. In „Red Amnesia“ führt uns Xiaoshuai Wang ins Leben einer Familie ein: Eine Mutter, ihre zwei erwachsenen Söhne sowie ihre mysteriöse Vergangenheit, die durch politische Einflüssen und den Kommunismus bestimmt war.
Zu Hause in Europa
Obwohl Europäer in einer Gemeinschaft leben, sind mentale und kulturelle Unterschiede doch noch sehr groß. Was ein Schwede wie Anders Thomas Jensen in seinem Film „Men & Chicken“ für witzig hält – Menschen, die wie Hühner aussehen, wie Bullen ihre Sexualität ausleben und sich mit Küchenrollen schlagen – ist unvorstellbar für italienische Filmemacher wie Christina Comencini. Ihre Ironie kommt zum Ausdruck im Portrait des narzisstischen und chronisch untreuen Saverio in „Latin Lover“.
Einer der spannendsten Beiträge des diesjährigen Filmfestes zeigt der Italiener Saverio Constanzo. Zuerst erfolgt eine witzige Begegnung zweier Menschen, die sich in einer öffentlichen Toilette einsperren. Danach wird die Geschichte ihrer Liebe bis sie Nachwuchs bekommen, gezeigt. In „Hungry Hearts“ deutet nichts auf eine Tragödie hin. Die Mutter, ein Öko-Typ und sensible Frau, hat ungewöhnliche Vorstellungen davon, wie ihr Kind ernährt und großgezogen werden soll. Der Vater – ebenfalls im Kampf um das Wohl des Kindes – will den traditionellen Weg gehen. Der Film endet mit einem Mord und dem ständig im Kopf kreisenden Gedanke, wie gut man sich wohl kennen muss und gleiche Ansichten teilen, bevor man sich bindet. Spannende Geschichte, zügiger Ablauf der Szenen und ausgezeichnete Leistung der Hauptdarsteller – Adam Driver und Alba Rohrwacher – machen diesen Film zu einem besonderen Beitrag des Filmfestes.