Für ihr Projekt „Land of Dreams“ reiste die iranische Künstlerin und Filmemacherin Shirin Neshat nach New Mexico. Sie ging auf Passanten zu und fragte sie, ob sie ein Foto von ihnen machen könnte. Es waren Menschen unterschiedlicher ethnischer und religiöser Herkunft, sogar aus jenen Kreisen, die selten zu Vorbildern für Kunstwerke werden. Das Projekt, das mit Fotografien begann und durch Videoinstallationen ergänzt wurde, mündete nun auch noch in einen gleichnamigen Spielfilm, den die Künstlerin zusammen mit ihrem Ehemann Shoja Azari und Jean-Claude Carrière produzierte. Die 78. Internationalen Filmfestspiele in Venedig nahmen es in ihr Programm „Horizons“ auf.
Der Film spielt in naher Zukunft und erzählt die Geschichte von Simin, einer iranischen Einwanderin, die in einem US-amerikanischen Amt angestellt ist und die Gedanken und Träume normaler Bürger überwacht. In ihrem gleichnamigen Kunstprojekt, das in der Pinakothek der Moderne in München gezeigt werden sollte (26. November 2021 bis 24. April 2022), wird die Geschichte umgekehrt erzählt. Simin ist eine Mitarbeiterin des iranischen Geheimdienstes, die die Träume normaler amerikanischer Bürger überwacht. Während des Experiments kommt sie zu einem unerwarteten Schluss: Die Träume, Ängste und Zweifel aller Erdbewohner sind gleich, unabhängig von ihrer Nationalität.
Der Film wie auch das Kunstprojekt offenbaren einen satirischen Blick auf die zeitgenössische US-Gesellschaft. Neshat konzentriert sich erstmals auf eine andere Kultur als die iranische und sie beobachtet die aktuelle Situation genau und zeigt die Widersprüche des berühmten amerikanischen Traums. Die Künstlerin kam nach Venedig, um ihren Film dem internationalen Publikum vorzustellen.
Warum haben Sie sich entschieden, Amerika in einer Kombination aus sozialer Satire und dystopischer Fantasie zu zeigen?
Ich lebe seit vier Jahrzehnten in Amerika, aber ich habe mich bis jetzt nicht mit dieser Kultur befasst. Als Trump Präsident wurde, hatte ich Gefühl, dass die Situation im Land alarmierend wurde. Als Einwanderin hatte ich das Bedürfnis, mich zu Wort zu melden und eine „kritische“ Perspektive auf das Land zu bieten, das es mir ermöglichte, hier zu leben und meine Kunst auszuüben. Ich beschloss, mit einem Projekt mit meinen Mitbürgern zu beginnen und dabei besonders auf ethnische Minderheiten zu achten: dunkelhäutige Migranten und Flüchtlinge. Unabhängig von Trump und seiner Politik spreche ich über die gesellschaftlichen Probleme, die viel tiefer sitzen und schon lange bevor sie durch Trump sichtbar wurden existent waren. Mein Film zeigt, wie die Gesellschaft von großen Konzernen dominiert wird und wie diese wirtschaftsorientierte Politik die Zerbrechlichkeit der Demokratie beeinflusst sowie über den heute besonders fragilen „Amerikanischen Traum“ nachdenken lässt.
Warum haben Sie sich entschieden, sich auf „Dreams“ in „Land of Dreams“ zu konzentrieren?
Träume sind etwas Universelles, das die ganze Menschheit vereint. Was den „Amerikanischen Traum“ anbetrifft, war ich daran interessiert zu nachvollziehen, was mit einem Land geschehen konnte, das einst stolz darauf war, Menschen aller Nationen und ethnischen Gruppen aufzunehmen und ihnen die Möglichkeit zu geben, „zu leben und zu träumen“. Davon ist heute nichts mehr übrig.
Was hat den Stil Ihres Filmes sowie des gesamten Projekts beeinflusst?
„Land of Dreams“ ist eine Hommage an den Surrealismus und den magischen Realismus, insbesondere an das Kino von Luis Buñuel. Aber der Film spricht auch Themen an, die mir persönlich sehr wichtig sind. Zum Beispiel: “Was bedeutet es heute, Künstlerin zu sein?” Die Hauptfigur Simin ist mein Alter Ego. Sheila Vand ist eine amerikanische Schauspielerin iranischer Abstammung. Wie ich ist Sheila eine Einwanderin aus dem Iran und neben dem Kino sie beschäftigt sich auch mit Fotografie.
Sagen Sie, was heißt „Heimat“ für eine Person, die in einem Land geboren wurde und in einem anderen lebt?
Das ist eine Frage, auf die ich mein ganzes Leben lang eine Antwort suche. Mit der Zeit habe ich verstanden, dass ich mich weder der iranischen Gesellschaft, aus der ich komme, noch der amerikanischen, in der ich lebe, zugehörig fühle. Ich schwebe zwischen zwei Welten. Meine Arbeit ist für mich zu einem Weg geworden, diese Widersprüche zu überwinden und mit Einsamkeit fertig zu werden. Insofern ist „Land of Dreams“ ein sehr persönlicher Film, wenn auch nicht ganz autobiografisch. Die Fotografie, die daraus entsteht und dieses Projekt ergänzt, steht in enger Beziehung zu unseren Wunschvorstellungen. Denn sie fängt unsere vergänglichen Träume ein und hält sie fest. Für mich ist das sehr poetisch.