Der koreanische Künstler Huh Hwe-tae (genannt „Moosan“ von „moo“ – Pinsel und „san“ – Berg) erlangte seine Berühmtheit mit der traditionellen chinesischen Kalligraphie. Im Laufe der letzten Jahre ging er über die geläufigen Techniken der Kalligraphie hinaus und entwickelte neue Formen. Er löste sich von der auferlegten Zurückhaltung des „Schönschreibens“ und erkundete seine künstlerische Freiheit. Das Resultat sind abstraktere Arbeiten, wenngleich sie auch weiterhin – wie sein Frühwerk – von der Natur und der Kunst inspiriert. Sein Fokus liegt auf Emotionen und Stimmungen sowie auf Spiritualität.
2005 gelang dem Künstler der Durchbruch bei der Umwandlung seiner zweidimensionalen kalligraphischen Wandbilder in dreidimensionale Kunstobjekte. Wir sprechen jedoch nicht über traditionelle Bildhauerei, obwohl der Künstler seine Objekte durch klassisches Modellieren und Zugabe von Materialien herstellt. Die neue Form soll Kalligraphie und Malerei verbinden sowie die Grenzen zwischen Schreiben, Zeichnen und Malerei überschreiten. Moosan entwickelt die Oberflächen seiner Kompositionen aus fein gekritzelten kalligrafischen Symbolen, die er auf das traditionelle koreanische Papier Hanji (한지) aufträgt. Er formt sie in kleine Basreliefs und setzt auf der Bildfläche in anspruchs- und bedeutungsvollen Figuren zusammen. Der Begriff Hanji bezieht sich auf handgefertigtes dünnes, bis fast durchsichtiges Papier aus Maulbeerrinde. Hanji ist leicht zu pressen, falten und drehen, insbesondere wenn es noch nicht vollständig getrocknet ist. Somit bietet dieses Papier eine große Freiheit für die Kreativität.
Seine neue Kunstform nennt er „Emographie“ (zusammengesetzt aus den Worten „Gefühl“ (Emotion) und „graphische Darstellung“ (Graphik)). Emographie ist eine Mischung aus Kalligraphie, Malerei und Skulptur und ist sowohl von der Natur als auch von Menschen gleichermaßen beeinflusst. Anders formuliert, Moosan wendet sich von einer Form der menschlichen Kommunikation, der (Schrift)Sprache, einer anderen Form der zeitgenössischen Kunst, nämlich dreidimensionalen Kunstobjekten zu. Seine Kunst entdeckt die Erotik, verwurzelt im menschlichen Verlangen zu existieren und die Existenz fortzuführen.
In seinen Emoskulpturen erscheinen Symbole für die Vagina als universelle Quelle des Lebens und der Schöpfung, des Verlangens, des Schmerzes und des Vergnügens. Sein künstlerisches Frühwerk ist oft monochrom, das einerseits von der Kalligraphie herrührt, andererseits sind auch künstlerische Tendenzen in der Malerei dieser Zeit zu finden. Ähnliche farbliche Zurückhaltung ist in den Werken vieler koreanischer Künstler der 1970er- und frühen 1980er-Jahre zu sehen. Wie diese Künstler damals ist auch Moosan von der östlichen Philosophie und dem Buddhismus inspiriert. Er untersucht die Zyklen der Geburt und Wiedergeburt, das Konzept der Reinkarnation und Seelenwanderung. Nicht immer sind derartige Ähnlichkeiten auf den direkten Einfluss eines Künstlers auf einen anderen zurückzuführen. Manche von ihnen sind durch auch einfach durch den Zeitgeist geprägt.
Ich besuchte Moosan bei meiner Reise nach Korea. Sein Studio befindet sich in Gangnam, Seoul. Es ist ein gemütlicher Raum, vollgepackt mit Pinseln, Leinwänden, Papierarbeiten, Büchern, überwiegend schweren Katalogen, Grafiken, Gemälden, Skulpturen und vor allem seinen emographischen Werken. Alles ist in diesem Raum harmonisch und ordentlich. Der Künstler bereitet sich auf eine Ausstellung vor. Er wählt seine Werke selbst aus und denkt über ein Ausstellungskonzept nach. Meine Blicke fallen auf eine Leinwand, deren Oberfläche aus drei Teilen besteht, die mit Blau, Rot und Gelb markiert sind (Abb. 3). Der Künstler erklärt, dass Gelb für den Glauben, Rot für die Leidenschaft und Blau für den Frieden und Stabilität stünden. Das Bild wirkt zunächst sehr abstrakt, als ob die Darstellung in ihrer eigenen Realität lebe. Mich erinnert sie an die Kunst der Minimalisten. Bei näherer Betrachtung sehe ich jedoch, dass die Farben gar nicht einheitlich aufgetragen sind, sondern dass ihre Intensität vom Zentrum aus zu den Seitenrändern hin abnimmt. Die Farbflächen scheinen sich wie Wasser in einem Whirlpool zu bewegen und zu wirbeln. Die Zentren dieser Wirbel sind manchmal nach rechts und manchmal nach unten verschoben, wodurch ein Rhythmus aus Flächen, Linien und Farben entsteht. Bei näherer Betrachtung stelle ich fest, dass die Oberfläche aus winzigen Formen besteht, die vom Künstler handgeschrieben sind. Unzählige kleine Basreliefs bilden ein riesiges Netzwerk. Diese mühsame Miniaturarbeit erinnert an handgefertigten Schmuck. In ihrer Vielschichtigkeit und semantischen Vielfalt scheinen sie dennoch in absoluter Harmonie miteinander zu stehen. Das Werk wirkt nun weniger abstrakt sondern vielmehr konzeptionell, vor allem, als ich den Titel höre: „Die Blume des Lebens“ (헤아림 의 꽃길), was narrative Züge in sich birgt. In diesen abstrakten Formen errate ich nun Blumen sowie andere Elemente der Natur. Die zahlreichen Linien, unterschiedlichen Formen und Oberflächen bilden eine dritte Dimension; die Leinwand verliert ihren zweidimensionalen Charakter und wird zum Objekt.
Dem Betrachter wird es nicht langweilig, immer wieder in das endlose Universum Moosans Objektbildern einzutauchen, denn je nach Betrachtung entstehen weitere semantische Interpretationen denn je nach Betrachtung entstehen weitere semantische Interpretationen, die Rätsel erscheinen lösbar, aber verschwinden in selben Moment wieder aus dem Blickfeld. Als ich ein anderes Objekt mit feinen Indigo-Tönen betrachte, stelle ich mir vor, dass der Künstler eine ruhige Wasseroberfläche zeigt, die von einem vorbeisegelnden Boot kurz bewegt wird (Abb. 4). Einige der Leinwände sind subtil und monochrom, beispielsweise „Herzschlag Nr. 5“ (허 회태, 심장 의 울림 5, Abb. 5). Die Komposition ist hier ähnlich wie im vorherigen Werk, aber die Farben sind in einer farbenfroheren Kombination aufgetragen. Die Formen könnten blühende Blumen sein, aber auch die leuchtende Sonne oder auch das Rad des Lebens. Bei diesen Plastiken ist alles bis ins kleinste Detail von dem Künstler selbst per Hand angefertigt.
Einige der Werke aus der kommenden Ausstellung konnte ich nur als Abbildungen sehen, wie beispielwiese eine Installation namens „Notfall, Notfall“ (허 회태, 비상비 비상 설치 조각). Mehrere freistehende unverschlüsselte Formen sind nebeneinander platziert und erinnern an menschliche Figuren, die sich als ständig wachsende Menschenmengen multiplizieren. Die Formen ähneln blumenartigen Motiven oder stehen als Symbole für weibliche Genitalien, erinnern an Umrisse eines Babys, als ob sie den konventionellen Prozess der Lebensschöpfung zeigen.
Die Werke von Moosan sind komplex. Sie enthalten verschiedene Elemente, die ich sowohl aus der koreanischen als auch aus der westlichen Kunst des 20. Jahrhunderts kenne. Hier sehe ich die Tradition der monochromen und flachen koreanischen Avantgarde der 1970er-Jahre ebenso wie die Elemente des Action Painting, insbesondere, wenn Moosan seine kalligraphischen Performances vor Zuschauern präsentiert. Es gibt hier etwas von der Konzeptkunst, aber auch etwas vom Erbe des abstrakten Expressionisten. Das vielfaltige Schaffen von Moosan sowie seine zahlreichen Experimente zeigen die Neugier des Künstlers und seine unermüdliche Freude an der Erforschung des Lebens. Vielleicht werden manche Kritiker von einem Wunsch nach eindeutigeren Erklärungen und Einordung haben und erwarten eine genauere Analyse der Kunstwerke. Ein unvoreingenommener Betrachter kann sich jedoch einfach den Gefühlen hingeben, die Moosans Werke bei ihm auslösen. Genau darauf hofft der Künstler, auf eine Wahrnehmung, die zu unerwarteten Vorstellungen führt und schließlich das Herz der Menschen berührt.