„Worum geht es im Europäischen Kino?“ habe ich mich gefragt auf dem Weg zum 15. Film Festival des Europäischen Kinos (festival del cinema europeo) in Lecce, Apulien. Und ich habe meine Antworten gefunden, zumindest basierend auf dem Festivalprogramm.
Im Vergleich zu Hollywood interessiert sich das Europäische Kino wenig für die Konventionen eines Märchens im Sinne von Tarzan oder beliebten Aschenputtel-Geschichten à la Pretty Woman. Auch klassische Regeln des Drehbuchaufbaus, mit seiner typischen Gliederung in „Anfang – Kulmination – Schluss“ können eventuell fehlen. Bei manchen Produktionen wartet man „filmlang“ auf eine Kulmination und sieht sie trotzdem nicht, wie beispielsweise bei Macondo von der in Deutschland geborenen Iranerin Sudabeh Mortezai. Im Film geht es um einen tschetschenischen Jungen, der seinen Vater im Krieg verliert und mit der Familie – Mutter und zwei kleinen Schwestern – nach Österreich auswandert. In einer Siedlung bei Wien wird ihm die schwere Aufgabe zuteil, mit nur elf Jahren der „Mann in der Familie“ sein.
Wäre nicht das Schauspiel von Ramasan Minkailov, der Macondo spielt, könnte man die ganze Geschichte als eine Dokumentation über Asylantenleben in Österreich wahrnehmen.
Etwas mehr vom kinematografischen Stil (vor allem in Gestaltung von mise-en-scène) hat der Film Lifelong (Starttermin am 22. Mai) der ebenfalls in Deutschland geborenen Türkin Asli Özge.
Wunderschöne Innenräume, malerische Landschaften von Istanbul und Umgebung, aber auch keine nachvollziehbare Entwicklung der Story. In 102 Minuten beobachten wir, wie ein unglückliches alterndes Ehepaar sich gegenseitig erleidet: schweigend haben sie Sex, still nehmen sie ihre Malzeiten zu sich, ohne große Aufregung verlaufen Reisen und Besuche, aber die zwei wichtigen Erkenntnisse darüber, das „er betrügt sie“, „sie erfährt es und sagt es ihm“, laufen recht cool und distanziert ab.
Im Europäischen Kino geht es oft nicht um die täglichen Probleme unserer Gemeinschaft, sondern um Nöte der anderen Völker, wie beispielsweise manche afrikanischen Stämme und ihre hässliche Tradition der weiblichen Genitalverstümmelung. Sicher tut es uns leid in Bobo von der Portugiesin Ines Oliveira, als ein niedliches Mädchen beschnitten werden soll und wir freuen uns, dass dies nicht geschieht. Aber was ist eigentlich mit der Protagonistin und Retterin selbst? Sie musste auch kurz davor sein, in eine tiefe Depression zu stürzen oder sich das Leben zu nehmen, da – glaube ich – ihr Sohn nicht mehr lebt. Aber warum lebt er nicht mehr und was war los, scheint für die Regisseurin eine Nebensache zu sein. Antworten bekommen wir ebenfalls nicht.
Im Europäischen Kino geht es immer um Probleme und Nöte. Zum Schluss könnte man sogar denken, dass es überall auf der Welt weniger Probleme gäbe, als bei uns in Europa. Hier kommt man eben zur Welt, aber nicht, um das Leben zu genießen, sondern zu leiden. Wie viel kann eine junge Frau in unserer Gesellschaft aushalten? Der Slowake Jurai Lehotsky zeigt in Miracle, dass einem Mädchen bereits mit 14 Jahren einiges zustoßen kann: Mutter-Tochter-Konflikte sind bloß eine Kleinigkeit. Weiterhin folgt die Abschiebung in das Heim für schwierige Teenager, ein drogenabhängiger Freund, der sie schwängert und schließlich seine Freundin an Zuhälter verkauft. Dort wird sie vergewaltigt, bekommt ein Kind, welches sie ebenfalls verlässt.
Europäisches Kino mag keine Helden, sondern steht auf Loser. Könnte im Hollywood eine junge Dame im Alter von nur 32 Jahre ohne Geld und anständige Arbeit, ohne Liebhaber, Verehrer oder zumindest einen Interessenten sein, keine Freunde oder Familie haben und – wichtig – dabei nicht versuchen, etwas in ihrem Leben zu verändern? In September von Penny Panayotopoulou sehen wir diese junge Frau. Nachdem ihr Hund, mit dem sie „eine Familie“ – vom gemeinsamen Essen bis gemeinsamen Einschlafen – gegründet hat, plötzlich stirbt, versucht sie sich bei einer Nachbarfamilie einzugliedern, was nicht klappt, weil der Familienvater dagegen ist. Zum Glück findet sich ein anderer Hund. Was macht sie, falls der zweite Hund auch verschwindet?
In Blind Dates von Levan Koguashvili sehen wir einen ähnlichen Charakter. Sandro ist solo, 40 Jahre alt, hat einen schlecht bezahlten Job und lebt immer noch bei seinen Eltern. Mutter und Vater sind von dem Wunsch besessen, ihren einzigen Erben zu verheiraten, um endlich Enkel zu bekommen. Doch Sandro verliebt sich leider in eine Frau mit einem schwierigen Schicksal: Ihre Tochter besucht die Klasse von Sandro und ihr Ehemann wird gerade aus dem Gefängnis entlassen. Im Vergleich zu Sandro ist der Ehemann der Frau ein wahrer Kämpfer und Überlebenskünstler. Was wird uns zum Schluss beigebracht? Dass der Loser alles bekommt! Die Ehefrau, die Liebhaberin und das Geld.
Ironisch gemeint natürlich, denn der Film des georgischen Regisseurs ist herrlich im Genre einer melodramatischen Komödie gedreht worden. Der komödiantische Faktor ändert jedoch nicht die Tatsache, dass man im Leben nicht kämpfen soll, so die Botschaft.
Im schwarz-weißen Werk Concrete Night der finnischen Regisseurin Pirjo Honkasalo sehen wir aktive Charaktere, aber auch abstoßend aktive – den sensiblen Timo und seinen älteren kriminellen und aggressiven Bruder Ilkka, die einen Tag zusammen verbringen sollen, bevor Ilkka ins Gefängnis muss. Und dieser Tag ändert viel im Leben der zwei Protagonisten. Zum Schluss bringt Simo einen Nachbarn um, da sich dieser in seiner Zuneigung an ihn „ranmacht“. Sein Bruder verabschiedet sich umgekehrt von seinem grenzenlosen Zynismus – mit Heulen und einem malerisch dargestellten Wasserfall ausRotz – da er dem Verschwinden seines jüngeren Bruders nachtrauert.
Der Debüt-Film Winter Journey von dem russischen Schauspieler Sergey Taramaev und seiner Frau Lubov Lvova zeigt dem Zuschauer alles, was man von einem russischen Film erwartet. Ein intellektuelles herausforderndes Thema – junger Sänger, Student des Konservatoriums – wird an einem Wettbewerb teilnehmen. Es entstehen erschütternde Emotionen, als der Student einen provinziellen Zeitgenössen, einen kleinkriminellen Lebenskünstler, trifft und sich in ihn verliebt. Anspruchsvolle klassische Musik darf auch nicht fehlen: die „Winterreise“ von Franz Schubert, unter anderem. Über allem herrschen selbstverständlich die ewigen Themen der Liebe und des Todes, ohne die wäre ja russische Kultur unvorstellbar.
Auch Franzosen sind leicht zu erkennen. Zum Beispiel im Film One of a kind von Francois Dupeyron. Im Vergleich zu Russen mögen Franzosen Probleme mildern, auch wenn Menschen in Baracken leben, kein Geld und keine Arbeit haben, Bier statt Brot konsumieren, Ehemänner ihre Frauen und Kinder verlassen und junge Damen in den Alkoholismus stürzen, weil der greisenhafteLiebhaber nicht mehr da ist. Zum Schluss reitet ein glückliches Paar auf dem Motorrad davon (gute Tradition seit Le Fabuleux Destin d’Amélie Poulain).
Vielleicht stellt die beste Mischung aus dramatischen Ereignissen und Hoffnungen die – mit der FIPRESCI Preis nominierte – Produktion des kurdischen Regisseurs Hisham Zaman aus Norwegen, Letter to the King dar. Der Film spricht ein soziales Thema an. Es geht um kurdische Flüchtlinge in Norwegen. Dennoch schafft es der Regisseur, dieses Thema poetisch und mit gekonntem kinematographischen Stil (ob Kameraführung, Dialoge oder narrative Erzählung) zu präsentieren. Die sechs Hauptcharaktere werden in nur 75 Minuten skizziert.
Wir sehen den Greis Mirza, der nach Kurdistan will, um dort seinen Sohn zu beerdigen (er ist auch der Verfasser des Briefes an den König, ein naiver Gläubiger der königlichen Justiz); einen 15jährigen Jungen, der gerne ein Mädchen kennenlernen will. Es gibt eine attraktive Witwe Beritan, die nach Oslo kommt, um sich an den Verrätern ihres verstorbenen Mannes zu rächen. Ein Möchtegerne-Playboy träumt von heißen Affären mit jungen und attraktiven Frauen, bekommt bloß eine alternde Dame als Liebhaberin und schämt sich, sie in der Öffentlichkeit zu präsentieren. Einem schüchternen Asylanten, der kurz vor Deportation steht und kurz vor seiner Abreise noch versucht, das ihm zustehende Geld bei seinem ehemaligen Chef aufzutreiben, hilft ein Taekwondo-Trainer namens Champion, der selbst gerne arbeiten will, aber nichts findet.
Sicher unterscheidet sich das europäische Kino von Hollywood, denn Hollywood lässt uns im Kino träumen. Europäische Filme lehren uns im Gegenteil, unseren eigenen Alltag zu schätzen, der doch nicht so schlimm aussieht, nachdem wir Zeugen so vieler Nöte und Leiden der anderen auf der großen Leinwand wurden.