Sechs Filme präsentieren Russland und benachbarte Regionen auf dem diesjährigen Filmfest München. Diese Werke könnten kaum unterschiedlicher sein: Einige spielen in Moskau, andere in Provinzen und weit entfernten Gebiete des großen Landes, doch alle diese Filme haben etwas gemeinsam, die Hoffnungslosigkeit und Fatalismus, was das Leben in Russland anbetrifft.

Zum zweiten Mal gewinnt der russische Regisseur Andrey Zvyagintsev den renommierten ARRI-/Osram-Award auf dem Münchner Filmfest. Diesmal mit dem Film „Loveless“, der über die Scheidung zweier Menschen sowie das Leiden und Verschwinden ihres Sohnes erzählt. Eigentlich leben Mann und Frau schon längst getrennt. Sie hat bereits einen soliden Mann mit Geld gefunden und verbringt immer öfter ihre Nächte auswärts. Er hat eine junge Frau geschwängert und zieht bald mit ihr und ihrer Mutter zusammen. Es bleiben nur noch wenige Formalitäten zu tun wie der Verkauf der gemeinsamen Wohnung. Allerdings ist da auch noch der gemeinsame Sohn Alexey, der im Weg steht.

“Loveless” Andrey Zvyagintsev

Dem 12-jährigen, einem schweigsamen, in sich gekehrten, Jungen, der fast ohne Freunde und Liebe aufwachsen muss, bleibt nichts anderes übrig, als seinen Eltern beim Streiten zuzusehen und sich danach im Bad einzuschließen und bittere Tränen zu vergießen. Eines Tages wird wieder gestritten. Es geht darum, ob der Junge beim gleichgültigen Vater bleibt oder doch in ein Waisenhaus gehen soll. Das lässt den Jungen eine Entscheidung treffen: Am nächsten Morgen holt Alexey seinen Schulranzen und reißt aus. Da die Eltern selten zuhause sind, bemerkt die Mutter das Verschwinden ihres Sohnes erst ein paar Tage später. Sie benachrichtigt die Polizei, doch die Beamten sind mit kriminellen Taten beschäftigt. Das Verschwinden eines wohl noch lebenden Kindes interessiert sie wenig. Zu Hilfe kommt nur eine Gruppe von freiwilligen Zivilisten. Und die Suche beginnt.

Zvyagintsevs Russland ist ein kaltes karges Land mit gleichgültigen Menschen. Vielleicht geht es aber gar nicht nur um Russland? Zumindest nicht für die dreiköpfige Münchner Jury (bestehend aus der Schauspielerin Nastassja Kinski, der Regisseurin Valeska Grisebach und dem Produzenten Markus Zimmer), die die Vergabe des Preises so begründen, dass im Film „Mitgefühl verschwunden zu sein scheint und die Menschen nur mit sich selbst beschäftigen“. In diesem winterlichen Werk, gehalten in kalten, zurückhaltenden Tönen, scheint aber doch gelegentlich die Sonne. Zum Glück. Nicht nur die richtige Sonne, die ein bis zwei Mal die kargen Landschaften beleuchtet, sondern emotionale Wärme. Man sieht die Trauer von Alexeys Mutter, die ihren Sohn vermisst und sich aktiv an seiner Suche beteiligt, aber auch die Tränen seines Vaters und natürlich die freiwilligen Helfer, die Tag und Nacht unentgeltlich nach einem fremden Jungen suchen.

Der Film mit seinen didaktisch-wertenden Episoden ähnelt den Werken dänischer Regisseure der „Dogma 95“-Gruppe. Der Russe scheint hier ähnlich vorzugehen, sowohl im visuellen als auch narrativen Sinne. Er scheint die Aufgabe eines Chronisten übernommen zu haben. Doch erleben wir gleichzeitig keinen erhobenenen Zeigefinger oder direkte Anschuldigungen. Letztendlich wählt Zvyagintsev für sein Werk den Titel „Nichtliebe“. Er könnte aber den Film auch „Der Hass“ genannt haben. Die mildere Bezeichnung „Nichtliebe“ weist wohl darauf hin, dass Emotionen nicht immer in unserer Macht liegen und dass wohl keiner von uns schuld ist, wenn sie nicht da sind.

“Die Sanfte” Sergei Losnitza

Ob Metropole oder Provinz, Russland verändert sein gleichgültiges bürokratisches Gesicht nicht. Auch nach der Aufführung des Filmes „Die Sanfte“ von Sergei Losnitza verlässt man das Kino schweren Mutes. Den Film des ukrainischen Regisseurs kann man nicht ganz ein russisches Projekt nennen. Die Finanzierung kam auch aus Deutschland, Frankreich, den Niederlanden, Lettland und Litauen. Nichtsdestotrotz wurde „Die Sanfte“ in russischer Sprache gedreht und trägt den Titel der gleichnamigen Erzählung von Fedor Dostoewskji, wobei der Regisseur das Werk des russischen Klassikers frei interpretiert und sich eher das Ziel setzt, mithilfe von Metaphern und historisch-literarischen Reminiszenzen das moderne Gesicht Russlands zu zeigen.

Im Film handelt es sich um eine junge Frau – bescheidend und zurückhaltend – die in einem kleinen Dorf einsam mit einem Hund lebt und als Nachtwächterin arbeitet. Wir erfahren, dass sie einen Ehemann im Gefängnis hat, weil ein Paket aus der Strafanstalt zurückkommt, das diese namenlose Frau an ihn schickte. Sie entscheidet sich, ihren Ehemann aufzusuchen. Dort durchlebt sie dann alle Stufen der Hölle und alle Facetten der Brutalität der menschlichen Natur und besonders der emotional-aufrührerischer Russenseele: Alkoholismus, Sadismus, Gewalt, Gier, Gemeinheit und viele andere Übel, die alle überraschenderweise in einem (wenn auch 2,5-stündigen) Film ihren Platz fanden.

Die Geschichte der Frau wird ständig durch Szenen des russischen Alltags unterbrochen. Wir sehen das russische Volk, auf den ersten Blick mitfühlend doch letztlich egoistisch, bei dem Vertrautheit an Gemeinheit grenzt, diese einst von Puschkin, Tolstoi oder Dostojewski gefeierte „russische Seele“ zwei Jahrhunderte später in ihrer komplett degradierten Version. Die Sanfte lernt nichts aus ihren Erfahrungen, sondern dreht sich immer wieder im Kreis, als ob sie dem Masochismus verfallen ist oder doch den Zuschauer zum Wiederstand motivieren will.

Wenn in der russischen Metropole und der Umgebung das Leben schon so brutal ist, wie sieht es dann an den Landesgrenzen aus? Natürlich noch düsterer. Dies zeigen zwei weitere Filme, „The Bonfire“ von Dmitrii Davydov und „Closeness“ von Kantemir Balagov.

Die Handlung des ersten Filmes spielt in Sacha, einer autonomen Republik des heutigen Russlands, gleichzeitig die größte unterstaatliche Territorialeinheit der Welt. Der zweite Film zeigt den Nordkaukasus in den 1990er-Jahren, also gerade zu den Zeiten des tschetschenischen Krieges. Beide Filme sind von Newcomern gedreht worden.

“The Bonfire” Dmitrii Davydov

Davydov, ein Kinofan und der Schullehrer, hat sein Drehbuch in russischer Sprache verfasst und ließ es später für die Darsteller in die jakutische Sprache übersetzen. Der Plot ist einfach. Ein junger betrunkener Mann überfährt zufällig einen anderen und geht dafür ins Gefängnis, wo er sich umbringt. Im Fokus der Geschichte steht weniger das Schicksal des Mannes, sondern seines allein zurückgebliebenen Vaters. Der Greis versucht nun, nach dem Tod seines einzigen Sohnes, sein Leben zu meistern, die Schuld auf sich zu nehmen sowie zugleich die Leere zu füllen, indem er einem obdachlosen Jüngling Obhut und Familie bietet. Dass aber in diesem von Gott vergessenen Ort nichts Gutes geschehen kann, versteht sich von selbst. Der Alte wiederholt immer wieder, wie unfair das Leben doch sei. Die Tragödie manchen Lebens versteht man jedoch erst am Ende, wenn das Schicksal die kleinen Menschen hart trifft vor dem Hintergrund der unendlichen Natur, der kargen endlosen winterlichen Landschaften, die die Ausweglosigkeit des Lebens unterstreichen.

“Closeness” Kantemir Balagov

Winterlichen Wind und Kälte spüren wir auch im Film „Closeness“ des 26-jährigen Kantemir Balagov aus Naltschik. Ein Glück wohl, dass der berühmte russische Regisseur Alesandr Sokurov sein Studio in dieser weit weg von St Petersburg entfernten Stadt öffnete und dort Talente wie Balagov entdeckte. Der Film berichtet über mehrere autonome Gemeinden (wie russisch-jüdische oder kabardino-balkarische), die nebeneinander existieren und einen Krieg aus der Nähe erleben. Es geht um zwei frisch Vermählte, die aus der jüdischen Gemeinde entführt wurden und welche für viel Lösegeld gerettet werden sollen. Insbesondere folgen wir dem Schicksal eines jungen jüdischen Mädchens namens Ila (ein Star von morgen: Daria Zhovner), das nach ihrer Identität und dem Lebensglück an diesem unglücklichen Ort sucht.

Zwei weitere Filme vom renommierten russischen Regisseur Pavel Lungin und dem bekannten Drehbuchautoren Aleksey Mizgirev führen uns, zumindest teilweise, in die Geschichte von Russland ein, in die glamourösen Bilder der russischen Metropolen St. Petersburg im 19. Jahrhundert und ins heutige Moskau.

“The Duellist” Aleksey Mizgirev

„Der Duellist“ handelt von einem noblen russischen Offizier, der seinen adligen Titel verliert und gegen Geld für andere Duelle führt, die der blutigen Wiederherstellung der adligen Würde dienen. Obwohl die Bühnenbilder sowie VFXs uns das Stadtbild von St. Petersburg zeigen und die Geschichte – eine Erinnerung an berühmte Romane von Puschkin oder Lermontov – einen mystischen Thriller mit historischem Drama verbindet, wirkt dieser Film unvollendet, fast sinnlos. Man fühlt, dass auch im zaristischen Russland viel Unrecht geschah, man versteht aber die Natur des Übels nicht zumindest nicht aus dem Film heraus und noch schlimmer, man glaubt dem Protagonisten Yakovlev seine Noblesse nicht, zum Unglück solcher ähnlichen Helden, die damals tatsächlich ihre Würde (wie selbst Puschkin oder Lermontov) mit Blut wegspülten.

“Queen of Spades” Pavel Lungin

Der Film von Lungin, etwa auch ein Mix aus der Erzählung von Puschkins „Pique Dame“, der gleichnamigen Oper von Peter Tschaikowski und dem modernen Thriller, bietet etwas mehr Stil und Unterhaltung, nicht zuletzt wegen des raffinierten Spiels von Kseniya Rappoport sowie der jüngeren Darsteller wie Ivan Yankovskiy und Maria Kurdenevich. Die berühmte Erzählung von Puschkin wird auf die moderne russische Gesellschaft übertragen, die in ihrer Heuchelei, Gier und Unberechenbarkeit glänzt. Obwohl der Thriller tatsächlich eine mystische Fantasie zeigt, wenn auch mit kritischen Elementen der heutigen Gesellschaft, bleibt auch hier wenig Hoffnung, dass diese Gesellschaft jemals ein menschliches Antlitz und eine Seele zeigt.

So unterschiedlich die erwähnten Filme auch sind, zeigen sie auf formaler Ebene die Degradierung der Gesellschaft und der Menschen. Ausgenommen die Filme von Lungin und Mizgirev stellen die russischen Ko-Produktionen eine deprimierende Realität und Hoffnungslosigkeit aus, wo die Menschen wie lüsterne Tiere und Bösewichte agieren, seelenlos und unbelastet von moralischen Werten. Da fragt man sich gelegentlich, ob das Leben im heutigen (oder damaligen) Russland tatsächlich so ausweglos war. Auch wenn im heutigen Russland tatsächlich alles wie in einem Horrorfilm aussieht, eins bleibt es sicher: Das wiederholte Thematisieren der totalen Ausweglosigkeit wird kaum helfen, das Licht am Ende des Tunnels zu finden.

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