Venedig liebt große Gesten zum Auftakt. Doch diesmal verzichtete das Festival auf den gewohnten Glanz und eröffnete mit einer Zumutung: Was bedeutet es, das Schicksal anderer in den eigenen Händen zu halten?
Zwei Filme stellten gleich zu Beginn Figuren ins Zentrum, die das Schwere ihrer Entscheidungen wie eine Krone tragen, ein Präsident und eine Heilige. Auf der einen Seite Paolo Sorrentinos „La Grazia“: ein italienischer Präsident, der mit moralischen Dilemmata kämpft, auf der anderen — Teona Strugar Mitevskas „Mother“: eine junge Mutter Teresa, noch keine Heilige, aber bereits mit dem Charisma und der eisernen Entschlossenheit, die sie zu einer globalen Größe machen sollte. Gemeinsam betrachten die Filme Macht nicht als Position oder Titel, sondern als die unerschütterliche Last der Überzeugung — sei es Politik oder Glaube.

Ein Präsident, der „denken muss“
Sorrentino ist ein Meister darin, italienische Politik in eine Pop-Art-Chronik zu verwandeln. Nach Filmen über Andreotti und Berlusconi schlüpft er diesmal in die Rolle eines klugen Architekten und formt seinen Lieblingsschauspieler Toni Servillo zu einem konventionellen Präsidenten, der lieber „denkt“ als „handelt“. Eine ironische Geste eines Regisseurs, der Macht zuvor als Zirkus der Eitelkeit, als Oper eitler Abgänge und grotesker Posen inszenierte. Statt lautstarker Demagogen gibt es nun einen Mann, dessen einziges Arsenal das Innehalten und die innere Stille sind.
Die Handlung basiert auf einer wahren Begebenheit, die Sorrentino in der Zeitung gelesen hat: Der ehemalige Präsident Sergio Mattarella begnadigte einen alten Mann, der seine an Alzheimer erkrankte Frau getötet hatte. Eine Geste — und das Land steht vor einem moralischen Dilemma: Darf der Staat Mord im Namen der Gnade rechtfertigen? Schließlich hat nur der Präsident der Republik ein solches Recht. Seine Unterschrift wird nicht zur politischen Routine, sondern zu einem Akt beinahe göttlichen Eingreifens in das menschliche Schicksal.

Sorrentinos Held ist ein Philosoph im Brioni-Anzug, der ewig zwischen Pflicht und Mitgefühl schwankt. Tagsüber ein zurückhaltender, schweigsamer Beobachter, setzt er abends, in der Stille seines Büros, während nur der Sicherheitsdienst in der Nähe ist, Kopfhörer auf und lauscht dem Rapper Guè. Im Rhythmus der Beats grübelt der Präsident darüber nach, ob er das Sterbehilfegesetz unterzeichnen, wem er vergeben und wen er in die Hände von Themis legen soll. In Italien ist alles wie immer: Politik ist ein absurdes Theater, in dem katholische Ethik auf juristische Kasuistik trifft, begleitet von einem YouTube-Track.
Schon der Titel des Films ist zum Interpretationsgrund geworden. Die meisten englischsprachigen Publikationen haben den Film mit „Grace“ (dt. Gnade oder Anmut) übersetzt und damit die Festivalübersetzung übernommen. Doch hier lohnt sich ein kurzer Halt: „Gnade“ ist eine spirituelle Kategorie — Stärke, Würde und Güte, die wir in uns tragen. „Vergebung“ (Pardon) hingegen, was Sorrentino eine Kategorie, die eher spirituell und philosophisch ist. Vergebung (Pardon), was Sorrentino eigentlich meint, ist ein konkreter Akt, eine Unterschrift unter einem Dekret, eine Entscheidung, von der jemandes Leben abhängt. In „La Grazia“ geht es nicht um abstrakte Gnade, sondern um Vergebung — kein trockener Streit zwischen Anwälten, sondern ein Film über die Grenzen der Macht und das Gewicht, nicht nur Aktenordner, sondern Menschenleben in den Händen zu tragen. Nicht umsonst wird Sorrentino zunehmend als Antonionis Erbe bezeichnet: In „La Grazia“ sagen Schweigen und Pausen mehr als Parlamentsreden.

Eine Heilige im Gitarrenriff
Während „La Grazia“ den Hauptwettbewerb eröffnete, wurde „Mother“ zum ersten Film des zweitwichtigsten Wettbewerbs am Lido – Orizzonti. Teona Strugar Mitevska entführt die Zuschauer ins Jahr 1948, ins brodelnde Kalkutta. Schwester Teresa hat ihre Lehrtätigkeit im Kloster Loreto Entali und das von Männern geführte System satt. Sie schreibt an den Vatikan und bittet um die Erlaubnis, ihre eigene Mission zu gründen. Die Antwort kommt langsam – doch in diesem „Dazwischen“ entsteht ihre zukünftige Größe.

Das englischsprachige Drama erzählt die Geschichte von sieben Schlüsseltagen im Leben der späteren Heiligen. Sieben Tage, an denen Glaube auf Ehrgeiz trifft. Und das alles – mit unerwarteter musikalischer Untermalung. Der Film setzt auf „harte Musik“: Punkrock-Gitarren begleiten die nächtlichen Tänze der Bräute Christi im Klostergelände. Diese Technik erzeugt mehr Hitze und Sensation im Show-Sinn als Licht und Erleuchtung im spirituellen: Teresa bleibt eine symbolische, keine wirklich lebendige Figur. Der Journalist Christopher Hitchens schrieb einst, dass Teresas Motive nicht rein altruistisch gewesen seien: „Sie war eine Freundin der Armut, nicht der Armen“ und „Sie machte die Slums zu Jagdgründen für neue Katholiken“. Der Venedig-Film widerlegt diese These nicht. Die „weiße Retterin“ bleibt eine umstrittene Figur. Am Ende entscheidet der Zuschauer selbst: Ist das ein Heiligtum oder eine Strategie?