Die 82. Internationalen Filmfestspiele von Venedig sind zu Ende. Wie immer war der Abschluss nicht nur Preisverleihung, sondern auch Bühne für Debatten, Symbole und Emotionen. Diesmal entzündeten sich die Diskussionen an zwei Filmen: Kaouther Ben Hanias „The Voice of Hind Rajab“ und Jim Jarmuschs neuem Episodenfilm „Father, Mother, Sister, Brother“, der schließlich den Goldenen Löwen erhielt.

Festival-Kontroverse: Emotion gegen Beobachtung
Schon vor der Preisvergabe galt Ben Hanias Film als Favorit. Die Premiere endete mit zwanzigminütigen Standing Ovations – länger als bei jedem anderen Beitrag des Festivals. Doch die Jury unter Vorsitz von Alexander Payne entschied sich für Jarmusch. Ben Hanias Film den Großen Preis der Jury zu verleihen – ebenfalls eine Ehrenauszeichnung, aber nicht die höchste Auszeichnung. Die Entscheidung spaltete: Hier das emotional aufgeladene, politisch brisante Statement, dort der subtile Arthouse-Film, der den Alltag einfacher Menschen mit universeller Bedeutung auflädt.
Ben Hanias Film rekonstruiert eine reale Tragödie. Im Januar 2024 saß die fünfjährige Hind Rajab stundenlang in einem zerstörten Auto im Gazastreifen, während ihre Familie bereits tot war. Über Telefon blieb sie mit Rettungskräften des „Roten Halbmonds“ in Kontakt. Ihre Stimme – eine echte Aufnahme von Telefongesprächen – diente als Grundlage des Films, in dem Schauspieler eine dramatische Situation reproduzieren, wobei die Audiobeweise authentisch bleiben. Die Vorführung in Venedig fiel in eine ohnehin aufgewühlte Stimmung. Schon in den ersten Tagen des Festivals hatten Tausende auf dem Lido für Palästina demonstriert, der Verkehr kam stundenlang zum Erliegen. In der Pressestelle häuften sich Briefe und Appelle, man möge Stellung beziehen. In diesem Klima geriet die Premiere von „The Voice of Hind Rajab“ zu einer emotionalen Apotheose. Im Saal wurde ebenso geweint wie auf der Leinwand. Als die letzten Schriftzüge erschienen, rief jemand „Free Palestine!“, und der Applaus bestätigte den Ausruf.


Künstlerisch bewegt sich Ben Hanias Werk zwischen Dokument und Fiktion. Seine größte Stärke liegt im direkten Kontakt mit der Realität, in der Authentizität der Stimmen. Doch genau darin liegt auch die Schwäche: Die künstlerische Form gerät ins Hintertreffen, zugunsten des emotionalen Drucks, manche sprachen sogar von „emotionaler Manipulation“. Andere warnten vor der Gefahr der Einseitigkeit. Ein Krieg ist komplex, es gibt Opfer auf beiden Seiten, auch Kinder. Die Reduzierung auf eine einzige Tragödie nimmt der Botschaft Tiefe und Universalität, öffnet sie dafür Medien und Organisationen, die sie für ihre eigene Agenda vereinnahmen. Gleichzeitig sind es gerade solche Geschichten, die das Publikum bewegen und das kollektive Bild prägen. Der Film wirkte als machtvolles politisches Statement, aber weniger als universelles Kunstwerk, das Raum für Deutungen lässt.
Alexander Payne und die Entscheidung der Jury
Der Juryvorsitzende, der amerikanische Regisseur Alexander Payne, ist bekannt für seine subtilen Tragikomödien über den „kleinen Mann“ („Sideways“, „Nebraska“). Seine Filme leben von genaueren Beobachtungen, von Ironie und einer tiefen Zuneigung zum Alltäglichen, nicht von lauten Parolen oder direkten politischen Statements. Deshalb überrascht es nicht, dass gerade er die Grenze zwischen emotionaler Relevanz und künstlerischem Wert zog. Nach der Preisverleihung musste Payne schwierige Fragen von Journalisten beantworten. Man wollte wissen, ob Druck auf die Jury ausgeübt worden sei und ob versucht worden sei, Mitglieder mit abweichender Meinung auszuschließen. Payne blieb gelassen und antwortete mit knapper Entschiedenheit: „Glauben Sie nicht alles, was Sie im Internet schreiben.“


Der Gewinnerfilm von Jim Jarmusch „Father, Mother, Sister, Brother“ war der erste Film des Regisseurs nach einer sechsjährigen Pause. Zuletzt hatte Jarmusch 2019 in Cannes seine Zombiekomödie „The Dead Don’t Die“ vorgestellt, danach wurde es still um ihn. In Venedig kehrte er nun zu einem seiner bevorzugten Formate zurück, dem episodischen Almanach, mit dem er einige seiner besten Werke schuf – „Mystery Train“, „Night on Earth“, „Coffee and Cigarettes“.
Der neue Film enthält drei Geschichten über Familie, über Beziehungen zwischen Eltern und Kindern, Brüdern und Schwestern, über unausweichliche Verletzungen und Versäumnisse. Die Episoden spielen in New Jersey, Dublin und Paris. Zu den Darstellern gehören Adam Driver, Charlotte Rampling, Cate Blanchett und Vicky Krieps.
In der ersten Geschichte besuchen ein Bruder und eine Schwester, beide unsicher und zurückhaltend, ihren exzentrischen Vater. Er trägt eine Rolex am Handgelenk, bittet seine Kinder aber ungeniert um Geld. Ihr Wiedersehen besteht aus routinierten Floskeln, hinter denen sich nur Unbeholfenheit und das Scheitern an Nähe verbergen. In einer anderen Episode lädt eine Schriftstellerin ihre beiden sehr unterschiedlichen Töchter einmal im Jahr zum Tee ein. Auch hier gibt es Lächeln, Geschenke, höfliche Gesten – aber kein einziges offenes Wort. In der dritten Geschichte kehren ein Bruder und eine Schwester in die leere Pariser Wohnung ihrer verstorbenen Eltern zurück. Sie versuchen, Erinnerungsstücke und Gesprächsfetzen zu einer Geschichte zu verweben, doch alles bleibt fragmentarisch, unvollständig, bruchstückhaft. Doch gerade in dieser Alltäglichkeit verbirgt sich das Drama. Und überraschenderweise verwendet der Film zu oft die Worte „Ich liebe dich“, an die kaum einer der Sprecher wirklich glaubt.

Als Jarmusch bei der Preisverleihung auf die Bühne gerufen wurde, begann er seine Rede mit einer Mischung aus Überraschung und Selbstironie: „Oh, Mist.“ Er erklärte, er habe nicht einmal daran gedacht, seinen Film für den Wettbewerb einzureichen, sondern nur eine schöne Premiere für sein Werk gewollt. „Wir machen keine Filme für Wettbewerbe, aber ich freue mich aufrichtig über diesen unerwarteten Sieg“, sagte er. Dann fügte er hinzu: „Kunst muss nicht direkt politisch sein, um politisch zu wirken. Sie kann Empathie und Verbindung zwischen Menschen schaffen, und genau das ist vielleicht der erste Schritt, um Probleme zu lösen. Deshalb danke ich Ihnen für die Wertschätzung unseres stillen Films.“
Weitere Gewinner und Auszeichnungen
Zu den weiteren Preisträgern gehörte Benny Safdie, der für “Smashing Machine“ den Regiepreis erhielt – ein untypisches Biopic über Mixed Martial Arts, in dem Dwayne Johnson erstmals als ernsthafter Theaterschauspieler auftrat. Den Coppa Volpi gewann die chinesische Schauspielerin Xin Zhilei für ihre Rolle in Cai Shangjuns „The Sun Rises on Us All“: Sie spielt eine Ladenbesitzerin, die seit Jahren eine geheime Beziehung mit einem verheirateten Mann führt, nun schwanger ist und zugleich mit der Rückkehr eines Ex-Liebhabers konfrontiert wird, der nach Gefängnisjahren todkrank ist. Xin verwandelt diese fast wortlose, fragile Figur in das bewegende Porträt einer Frau zwischen Vergangenheit und Zukunft.

Als bester Hauptdarsteller wurde Toni Servillo ausgezeichnet. In Paolo Sorrentinos „La Grazia“ verkörpert er den italienischen Präsidenten mit Leichtigkeit, Menschlichkeit und feinem Humor – eine Performance, die die vertraute Chemie zwischen Regisseur und Schauspieler wiederaufleben ließ, wie schon einst in „The Great Beauty“. Auch das französische Kino setzte Akzente: Valérie Donzelli und Gilles Marchand erhielten den Preis für das beste Drehbuch für „At Work“, die Verfilmung von Franck Courtes’ Roman über einen Fotografen, der seine Karriere aufgibt, um endlich Schriftsteller zu werden.

In diesem Jahr bot Venedig eine beeindruckende Fülle an Premieren, die schon jetzt in der Oscar-Saison mitreden dürften. Netflix präsentierte eines seiner stärksten Programme der letzten Jahre, darunter Kathryn Bigelows geopolitischen Thriller “House of Dynamite“ und Guillermo del Toros düstere Neuinterpretation von „Frankenstein“.Manche Festival-Lieblinge wie Yorgos Lanthimos’ Bugonia oder der neue Film von Park Chan-wook, den viele Kritiker mit Bong Joon-hos Parasite verglichen, gingen leer aus. Dieses Festival zeigte sich erneut als Spiegel der Welt, in dem Emotion und Ästhetik, Politik und persönliche Geschichten, große Premieren und intime Erzählungen zusammentreffen. Genau hier entsteht das Kino, das über das Festival hinaus weiterlebt.