105533 Le Mage Du Kremlin The Wizard Of The Kremlin Jude Law And Paul Dano Credits Carole Bethuel

Jude Law spielt Putin sehr natürlich. Sein Blick, seine Gesten, seine Pausen – all das erinnert an ein vertrautes Bild des Präsidenten Russlands. Und doch betont der Schauspieler selbst – im Film von allen „Wladimir Wladimirowitsch“ genannt – dass seine Figur fiktiv sei, der Film bedingt Wirklichkeit abbilde und alle Ähnlichkeiten zufällig seien. Subtile Diplomatie? Der Zuschauer sieht Putin, doch Law suggeriert, an ein „kollektives Bild“ zu glauben.

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Paul Dano als Wlad Baranow, Foto: La Biennale di Venezia

Im Mittelpunkt des Films Der Magier im Krempl des Franzosen Olivier Assayas steht jedoch nicht Putin-Law, sondern Wlad Baranow — eine kaum verhüllte Anspielung auf den ehemaligen Präsidentenberater Wladislaw Surkow. Die ersten Szenen spielen in den frühen 1990er Jahren, in den letzten Tagen der Sowjetunion. Wir treffen Baranow, der seine Geschichte rückblickend erzählt: ein junger Reality-Show-Produzent, der Boris Beresowski trifft, und dieser weist ihn auf seinen Auserwählten hin — den nächsten Präsidentschaftskandidaten. Schließlich Jelzin ist so angeschlagen, dass er buchstäblich mit einem Gürtel an den Stuhl gefesselt werdenmuss, um vor der Kamera gerade zu sitzen. Durch Zufall findet sich Baranow später in der Rolle des „grauen Kardinals“ eines ehemaligen KGB-Offiziers und aufstrebenden Politikers der Russischen Föderation wieder — Putin. Wir verfolgen seinen Weg: von intellektuellen Recherchen und Romanen bis hin zum Präsidentenberater und schließlich zu einem ebenso spektakulären Sturz. Bekannte Politiker und Zeitgenossen jener Jahre treten auf, reale Ereignisse flimmern über die Leinwand und verwandelt die Konventionalität in eine Art Semidokumentarfilm, bei dem es dem Zuschauer schon schwerfällt, Fiktion von Chronik zu unterscheiden.

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Jude Law und Alicia Vikander bei der Premiere in Venedig, Foto: La Biennale di Venezia

Journalisten hielten den Atem an, als sie den Film bei den Filmfestspielen von Venedig sahen. Niemand verließ den Saal, und nicht, weil der Film eine künstlerische Entdeckung oder ein einzigartiges Experiment wäre. Vielmehr, weil alle nach Antworten suchten: Warum geschehen bestimmte Ereignisse heute, und wer trägt die Verantwortung? Assayas erklärte nach der Premiere, er habe den Film gedreht, „um das Chaos zu verstehen, das unsere Welt auf seltsamste und verstörende Weise verändert“. Das Problem ist jedoch, dass das Kino, und nicht nur das Kino, oft nach persönlichen Schuldigen sucht. Es ist bequemer, mit dem Finger auf jemanden zu zeigen: „Da ist er, der Puppenspieler.“ So war es bei Napoleon, Stalin und Hitler. Doch wie Leo Tolstoi im Epilog von Krieg und Frieden erinnerte, wird die Geschichte nicht vom Willen einer einzelnen Person bestimmt, sondern von der Kraft des allgemeinen Willens.

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Alexander Sokurov, Foto: La Biennale di Venezia

Hier findet das Echo eines anderen Films nach, wenn auch von völlig anderem Maßstab und Konzept. Alexander Sokurows vielschichtiges Werk ist kein Porträt eines Herrschers und seines Gefolges, sondern eine Chronik der Geschichte selbst, in der es keine Schuldigen und Unschuldigen gibt, sondern nur einen endlosen Fluss der Zeit. Das ist vielleicht der entscheidende Unterschied: Assayas zeigt uns einen anderen „Magier“, Sokurow hingegen – einen ganzen Ozean.

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Regisseur’s Notizen, Film still

Sokurows Regisseur’s Notizen bietet einen ungewöhnlichen Blick auf die Geschichte – nicht nur der Sowjetunion, sondern der Welt insgesamt. Fünf Stunden lang entfaltet sich eine Chronik der UdSSR von 1957 bis 1991, im Wesentlichen dieselbe Epoche, die auch den Zusammenbruch der Sowjetunion umfasst. Die dokumentarischen Bilder werden regelmäßig durch faktografischen Einblendungen unterbrochen. Parallel zu den Erzählungen von Fabrikarbeitern und Kollektivbauern über ihre Erfolge und Szenen aus bekannten Filmen laufen Ereignisse in der Sowjetunion und weltweit ab: Regimewechsel, Geburten und Tode prominenter Persönlichkeiten, Abstürze von Militär- und Zivilflugzeugen, Kriege, die beginnen und enden.  Es ist faszinierend zu sehen, wie sich die Gesichter der Menschen verändern – voller Optimismus und Aufrichtigkeit in den 1960er- und 1970er-Jahren aussahen, mit Hoffnung in den 1980er-Jahren und schließlich mit Verwirrung und Hoffnungslosigkeit in den 1990er-Jahren. Obwohl der Film auf Dokumentarmaterial basiert, strebt er keine strenge Chronik an. Im Vordergrund stehen persönliche Emotionen, Sokurows schriftstellerische Intonation, seine bewusste Auswahl von Materialien, Musik und kulturellen Ereignissen. So entsteht der Eindruck einer riesigen audiovisuellen Enzyklopädie, in der Geschichte zugleich als Fakt und als künstlerisches Zeitgefühl erfahrbar wird. 

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