Der Schwerpunkt des Filmfestivals in Berlin lag dieses Jahr auf den europäischen Filmproduktionen, die dementsprechend die meisten Preise erhalten haben. Amerikaner waren in Berlin kaum vertreten. Eine Ausnahme bildete der Film „Call Jane“ von Phyllis Nage – eine Geschichte über Abtreibungen und Frauen, die diese trotz des Verbotes vornehmen lassen. Der Film lief jedoch bereits im Januar auf dem Filmfestival in Sundance und war also – entgegen den Festivalregeln − keine Weltpremiere in Berlin.

Es scheint, dass aufgrund der andauernden Pandemie in den letzten beiden Jahren weniger Filme gedreht werden konnten. Die Konkurrenz der Festivals für würdige Kandidaten ist viel zu groß und vor diesem Hintergrund hat die Berlinale kaum sehenswerte Filme erhalten. Im Hauptwettbewerb beschränkte sich die Liste der Stars auf zwei Franzosen: François Ozon und Claire Denis.

Denis Ménochet und Stephan Krepon im Film “Peter von Kant” von François Ozon © C. Bethuel / FOZ

François Ozon hat mit „Peter von Kant“ eine Überarbeitung von Rainer Werner Fassbinders „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ gezeigt, in der aber die Geschlechterrollen vertauscht wurden. Vor 50 Jahren schien das Werk von Fassbinder spannend und originell. Die Version von Ozon war amüsant, aber belanglos. Die Handlung spielt im Jahr 1972. Die Zuschauer beobachten, wie Peter (Denis Ménochet) durch seine vollgestopfte Kölner Wohnung streift, seinem Assistenten Carl (Stephan Krepon) einen Brief an Romy Schneider diktiert, seine Mutter Rosemary (Hanna Schygulla, sie hat auch in „Petra von Kant“ mitgespielt) anruft und schließlich Carl zum Tanz auffordert, zu einem Lied namens “Jeder Mann tötet, was er ist”. Danach besucht ihn seine Muse, die Schauspielerin Sidoni (Isabelle Adjani), in einer Wolke aus Pelz und Glamour, und stellt dem Regisseur ihren 23-jährigen Freund Amir (Khalil Ben Gharbia) vor. Ein Blick auf Amirs geschmeidigen Körper und die perfekten Lippen lässt Peters Herz höherschlagen. Nach kurzer Zeit zieht Amir in Peters Wohnung ein. Wie diese Geschichte endet, erahnen wir, ohne den Fassbinder-Film gesehen zu haben. Ozon bleibt Ozon, also ein Franzose mit charmanten Helden, die auch, wenn sie leiden und sich trennen, nicht zu lange trauen oder zu harsch argumentieren. Für den Regisseur selbst scheint dieser Film kurzfristige Unterhaltung und eine weitere Arbeit zu sein, die auf die nächste folgt.

Vincent Lindon und Juliette Binoche im Film „Avec amour et acharnement“ von Claire Denis © Curiosa Films 2022

Claire Denis dreht meistens ganz gute Filme, nur nicht dieses Mal. In „Avec amour et acharnement“ geht es um eine Frau Ende 50, gespielt von Juliette Binoche, die zuerst mit einem Mann (Grégoire Colin) zusammenlebt und seinen Freund (Vincent Lindon) begehrt, sich später aber einen Tausch der Männer wünscht. Meine französischen Kollegen fanden den Film sehenswert so wie auch die Jury, die dem Film eine Auszeichnung für die beste Regie vergab. Mich überkamen Zweifel, wie etwa der, wen würde eine alternde Heldin mit den Problemen eines Teenagers interessieren, in den Zeiten von Krisen, Pandemien, Ressourcenknappheit, Umweltproblemen? Es sei denn, dass ich den Film nicht verstanden habe und es hier um eine Befreiung und Emanzipation der Frau und die Feier ihrer erotischen Fantasien und deren Verwirklichung in jedem Alter geht. Die explizit erotischen Szenen werden wohl die einzigen sein, die mir aus diesem Film in Erinnerung blieben.

Regisseurin von „Alcarraz“ Carla Simon © Berlinale 2022

Den Hauptpreis des Festivals erhielt das bunte Drama „Alcarraz“ der Katalanin Carla Simon über eine Familie, die seit vielen Jahren ein ländliches Leben führt und jetzt von der Vertreibung bedroht ist. Wir sehen die Ereignisse abwechselnd durch die Augen des Großvaters, der in den Jahren des Bürgerkriegs die Vorfahren der heutigen Landbesitzer beschützte, dann durch die des Vaters, der die Pflege der Gärten ganz allein schulterte und später aus der Perspektive der Kinder im Teenageralter, die bereits ganz andere Interessen zeigen und schließlich kommen noch Babys zu Sprache. Die Regisseurin wurde auf den Berliner Filmfestspielen − mit ihrem Debütfilm „Sommer 1993“ – entdeckt und erhielt damals den Preis für das Beste Debüt und den Grand Prix des Programms Generation Kplus. Es war wohl logisch, dass auch dieser Film nicht außer Acht bleibt.

Alexander Scheer, Meltem Kaptan im Film “Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush” von Andreas Dresen © Luna Zscharnt / Pandora Film

Im Wettbewerb gab es mehrere deutschsprachige Beiträge, darunter Andreas Dresen mit „Rabiye Kurnaz gegen George Bush“. Der Film basiert auf wahren Begebenheiten und erzählt von einer Türkin aus Bremen, die in den 2000er Jahren ihren 19-jährigen Sohn Murat vermisst. Als sie zur Polizei geht, stellt es sich heraus, dass Murat im Rahmen einer Kampagne gegen den Terrorismus in Pakistan festgenommen und in das neu eröffnete Gefängnis in Guantánamo gebracht wurde. Die Frau glaubt aber an die Unschuld ihres Sohnes. Sie geht zusammen mit einem Menschenrechtsanwalt durch alle Instanzen nach Washington. Nach viereinhalb Jahren im Gefängnis wird Murat – ebenfalls dank seiner Mutter − für nicht schuldig befunden und ist nach Deutschland zurückgekehrt. Er schreibt ein Buch darüber, welches von Dresen auch verfilmt wurde. Die Geschichte der Mutter taucht nirgendwo auf. In gewisser Weise gibt „Rabiye Kurnaz gegen George Bush“ der Mutter Gerechtigkeit zurück. Vielleicht hat dieser Film keinen künstlerischen Wert, zeigt allerdings eine bemerkenswerte Geschichte und natürlich die Performance der Komikerin Meltem Kaptan, die für ihre Rolle den Schauspielerpreis bekam.

Gwendoline Christie und Asa Butterfield in „Flux Gourmet“ von Peter Strickland © Flux Gourmet, Bankside Films, IFC Productions I

Viele interessante Werke landeten in Nebenwettbewerb. Einen originalen Beitrag in der Sektion „Encounters“ zeigte der Brite Peter Strickland. „Flux Gourmet“ ist kein klassischer Spielfilm, sondern eher eine Performance. Man könnte ihn – wie der Titel vermuten lässt – für eine Feinschmeckergeschichte halten, sie ist aber eher das Gegenteil. Wahrscheinlich scherzt der Regisseur über die eigenartigen Beziehungen zwischen Künstlern und den Institutionen, die ihre Dummheiten finanzieren. Die Handlung spielt im Sonic Catering Institute, einem Kreativraum, wo experimentelle Künstler innerhalb weniger Wochen ein Projekt über Essen und Sound entwickeln.

Während das Team Ergebnisse demonstriert, etwa wie die herausfordernden Szenen des Verspeisens von Fäkalien, werden sie von einer kleinen Gruppe einer intellektuellen Elite beobachtet und geschätzt. Man möchte erstmal vermuten, dass der Regisseur über eigene Erfahrung berichtet. Er bestreitet aber, diese gemacht zu haben, bis auf einen Magen-Darm-Infekt, dem im Film ebenfalls besondere Aufmerksamkeit gezollt wird. Stricklands Geschichten sind seltsam, haben aber starke visuelle Bilder. Nach dieser Premiere konnte ich den Gedanken nicht loswerden, dass sein Film eine bewusste Demonstration dessen ist, wie absurd das internationale Arthouse-Kino heute geworden ist. Und vielleicht ist etwas wahr daran.

Wenn die Funktion der Festivals darin besteht, das Interesse der Zuschauer für Autorenkino zu wecken, dann ist diese Aufgabe der Berlinale gescheitert. Aufgrund von Covid-Einschränkungen liefen die Vorführungen in halbleeren Räumen, es gab keine großen Premieren mit roten Teppichen, ebenso keine Promis. Sogar Isabelle Huppert konnte ihren Ehrenpreis aufgrund einer Covid-Erkrankung persönlich nicht entgegennehmen.

Berlinale Beitrag mit Isabelle Huppert „À propos de Joan“ © 247films

Sollte man dieses Festival als großes Experimentierlabor betrachten, dann ist der Preis für „Alcarraz“ eine durchaus logische Entscheidung, die darauf hinweist, wie sich die Menschheit während der Krisen und Einschränkungen befreien will – „zurück zur Natur“ und näher an die Erde.

Und abschließend gibt es einige weitere Veränderungen im Kampf um die Gleichstellung der Geschlechter. Die Frauen waren in Berlin die meisten Gewinnerinnen: sie bekamen vier “Bären” in den fünf Hauptkategorien.

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