Die russische Literatur ist dafür bekannt, dass ihre Autoren die menschliche Seele in ihrer inneren Widersprüchlichkeit tief ergründen. Es gibt viele Romane, die besonders dem russischen Leser wertvoll sind. Einer der beliebtesten ist „Anna Karenina“ von Leo Tolstoi. Tiefe Gefühle und Emotionen seiner Protagonisten – kaschiert durch moralische Werte der adligen Gesellschaft Russlands im 19. Jahrhunderts – finden in diesem „Verführungsroman“ ihren realistischen Ausdruck. In der Verfilmung von Joe Wright bleibt davon nur die Verführung erhalten, in der die theatralisierte Schau eine Seelenergründung ersetzt.

1870er Jahre, Russland. Anna (Keira Knightley) lebt in der mondänen Welt der russischen Hauptstadt St. Petersburg und ist mit dem hochrangigen Regierungsbeamten Alexej Karenin (Jude Law) verheiratet. Eines Tages reist sie mit dem Zug nach Moskau, um ihren Bruder Stefan Oblonskij (Matthey Macfadyen) mit seiner Frau Dolly (Kelly Macdonald) zu versöhnen. Im Zug teilt sie ein Abteil mit der Gräfin Wronskaja und am Bahnsteig lernt sie deren Sohn kennen, der sofort von Anna beeindruckt ist und anfängt, sie zu verfolgen. Wronskij ist jedoch das Objekt der Träume der jüngeren Schwester von Dolly, Kitty (Alicia Vikander), die wiederum vom Freund Oblonskijs Levin (Domhnall Gleeson) begehrt wird. Während Anna durch ihre angefangenen Liebesaffäre mit Wronskij in den Augen der High Society immer tiefer fällt, (ihr droht bald der Verlust ihrer gesellschaftlichen Stellung, ihres lieben Sohnes Sergej und auch des Lebens) entwickelt sich die Zuneigung von Levin zu Kitty glücklich und endet mit einer Hochzeit.

Joe Wrights Verfilmung von „Anna Karenina“ zeigt das menschliche Drama der Protagonistin wie eine symbolistisch-theatralisierte Inszenierung, die bei der amerikanischen Filmakademie sicher einige Oscars für Produktions- und Set-Design verdienen wird, dennoch wenig mit der Authentizität der Geschichte zu tun hat. In die gleiche Richtung geht die musikalische Begleitung des Filmes, indem die Kompositionen auf etwas klischeehafte Weise mehrere russische Klassiker – von Tschaikowski bis Schostakowitsch – in bunter Mischung präsentiert.

Erstaunlich gut scheint jedoch die Leistung der Hauptdarstellerin Keira Knightley, die nach mehreren Kostümdramen für diese Rolle wieder in historische Kleidung schlüpft. Ihre einfüllsame Darstellung kann die Konkurrenz der früheren Verfilmungen mit Greta Garbo, Vivien Leigh, Tatiana Samoilova und Sophie Marceau locker schlagen, was man leider nicht über die Leistung von Aaron Taylor-Johnson alias Wronskji sagen kann. Sein Held ist alles andere als ein leidenschaftlich verliebter Offizier, daher leidet auch dessen Liebe an Glaubwürdigkeit.

Anders wäre es, wenn Jude Law diese Rolle übernommen hätte, denn sein Karenin wirkt – im Gegenteil zur Literaturvorlage – menschlich und erstaunlich sympathisch, so, dass man eher mit ihm als mit seiner frisch verliebten Frau Mitleid hat. Am besten ist es Wright gelungen, die Geschichte von Kitty und Levin darzustellen, welche seine Vorgänger fast außer Acht gelassen haben. Gerade dieser narrative Zweig bildet ein gelungenes Gleichgewicht zur Geschichte der unglücklichen Liebe von Anna und Wronskij und lässt den Film nicht mehr tragisch erscheinen.

Im Kino: 6. Dezember 2012
Anna Karenina (UK, Frankreich 2012)
Regie: Joe Wright
Mit: Keira Knightley, Aaron Taylor-Johnson, Jude Law
Länge: 130 Min.

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